Scharia – Eine Einführung
Das Straßenschild „Scharia Nr. 6“ zeigt, dass hier die 6. Straße beginnt. Der Begriff Scharia bezeichnet auch das islamische Rechtssystem. Das arabische Wort Scharia bedeutet einfach „Weg“ im Sinne von Weg zur Quelle oder Tränke.
Das Islamische Recht – die Scharia
In der Islamischen Republik Iran, aber auch in anderen Ländern wie Saudi-Arabien oder Pakistan werden repressive Gesetze und ungezählte Menschenrechtsverletzungen mit Verweis auf die Scharia gerechtfertigt. Aber was ist die „Scharia“ – das islamische Rechtssystem – eigentlich? Für Millionen Menschen hat sie enormen Einfluss auf das tägliche Leben und die Gesetzgebung. Die Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Schirrmacher erläutert die Grundlagen auf einen Blick:
Die islamische Theologie betrachtet die Scharia als vollkommene Ordnung, die Frieden und Gerechtigkeit schafft. Sie gilt als Ordnung Gottes und darf daher prinzipiell nicht durch menschliche Gesetze ersetzt werden. Die Scharia ist die Gesamtheit des islamischen Gesetzes, wie es im Koran, in der islamischen Überlieferung und in den Auslegungen maßgeblicher Theologen und Juristen vor allem der frühislamischen Zeit niedergelegt wurde. Die Scharia gibt Anweisungen für das Verhalten in Familie und Gesellschaft (z. B. zum Ehe- oder Strafrecht), aber sie reglementiert auch die Gottesverehrung (die Praktizierung der “Fünf Säulen”: Bekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Wallfahrt). Der Ablauf des täglichen rituellen Gebets ist also ebenso wenig in das Belieben des Einzelnen gestellt wie der Abschluss eines Ehevertrags.
Quellen der Scharia: Koran, Überlieferung, Theologie
Der Begriff Scharia bezeichnet das islamische Rechtssystem. Eigentlich bedeutet „Scharia“ einfach „Weg“ im Sinne von Weg zur Quelle oder Tränke. Im Bild: die „Scharia Nr. 6“.
Die Bestimmungen der Scharia basieren auf drei Quellen: dem Koran, der Überlieferung und ihrer normativen Auslegung durch frühislamische Juristen und Theologen. Diese juristisch-theologischen Erwägungen mündeten in den ersten islamischen Jahrhunderten in Gelehrtenzirkel und bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. in die Bildung mindestens einer schiitischen und vier sunnitischer “Rechtsschulen” (Rechtstraditionen) der Hanafiten, Hanbaliten, Schafiiten und Malikiten.
Neben dem Koran behandelt auch die Überlieferung (die Berichte über Muhammad und seine Gefährten) zahlreiche Rechtsfragen. Diese dort niedergelegten rechtlichen Regelungen sind ebenso verbindlich wie der Koran. Der Grundkorpus an Gesetzen aus dem Koran und der Überlieferung wird in seinen knappen Anweisungen jedoch erst durch die Auslegung der Rechtsschulen auf konkrete Fälle anwendbar. In Fragen der Anwendung existieren jedoch z. T. erhebliche Differenzen zwischen einzelnen Theologen, daher gibt es keine einheitliche, in Rechtstexte gegossene “Scharia”. Einzelne Länder ziehen aus den Auslegungen der Theologen sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen für die konkrete Gesetzgebung vor Ort.
Strafarten der Scharia
Neben dem Ehe- und Familienrecht ergeben sich beim islamischen Strafrecht im Vergleich zu westlichen Menschenrechtsvorstellungen die größten Differenzen. Das islamische Strafrecht basiert nach überwiegender Meinung auf einer Dreiteilung in Grenz-, Ermessens- und Wiedervergeltungsvergehen:
Zu den besonderen Merkmalen des islamischen Strafrechts gehört die enge Verflechtung mit dem Beweisrecht. Nur bei den ta’zir-Straftaten (und den mit abhaltenden Strafen bedrohten Taten) ist der freie Beweis mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln möglich, bei den hadd- und den qisas-Straftaten gibt es strenge Beweisregeln, deren Beachtung Voraussetzung einer Verurteilung ist. Sie sind in den materiellen Strafgesetzen selbst, nicht in einem Strafverfahrensgesetz niedergelegt.
Bei den hadd- und den qisas-Strafen gibt es von altersher einen numerus clausus der Strafen. Bei den hadd-Strafen sind diese Steinigung, Kreuzigung, Abschneiden von Hand oder Fuß und Auspeitschung, bei den qisas-Strafen Vergeltung und Blutgeld. Bei den ta’zir-Taten gab es dagegen eine weite Palette von Strafen, der immer noch neue hinzugefügt werden konnten. Die in Europa lange Zeit wichtigste Strafe, die Freiheitsstrafe, hatte im Islam zunächst nur geringe Bedeutung. Weit verbreitet war ferner die Zurückhaltung gegenüber der Geldstrafe. Abgesehen davon, daß der Verurteilte sie vielfach nicht hätte bezahlen können, fürchtete man, daß bei der verbreiteten Korruption die Richter einen Teil davon für sich behalten könnten.
Diese Grundstrukturen sind dem schiitischen und dem sunnitischen Strafrecht gemeinsam, mag es auch im einzelnen Unterschiede geben. Die Scharia ist zu keiner Zeit und an keinem Ort je vollständig zur Anwendung gekommen. Auch heute wird sie in den Staaten (wie z. B. Sudan oder Iran), die die “volle Wiedereinführung” der Scharia postuliert haben, nur teilweise praktiziert. In den meisten islamischen Ländern kommt heute ein Konglomerat zur Anwendung aus koranischen Geboten, Elementen der islamischen Überlieferung, dem arabischen Gewohnheitsrecht, vorislamischen sowie dem europäischen Recht entlehnten Elementen, die insbesondere während der Kolonialzeit in die islamische Welt Eingang fanden.
Prof. Dr. Christine Schirrmacher