55 Jahre „Autonomes Gebiet Tibet“

1951 marschierten chinesische Truppen in Tibet ein, nachdem die Übernahme Chinas von der tibetischen Regierung formal anerkannt worden war. Der Widerstand der Tibeter wurde jedoch bislang nicht gebrochen, aber eine echte Autonomie ist noch immer nicht erreicht. Tibet muss daher zurück auf die Tagesordnung der internationalen Politik. Es darf nicht tatenlos zugesehen werden, wie Menschen in vielfältiger Weise ihrer Heimat beraubt werden und wie eine Kultur heimlich stirbt. Bild: „Folter in China“, Plakat der IGFM

„Tibet muss zurück auf die Tagesordnung der internationalen Politik“ 

Politikwissenschaftler Ingmar Niemann im Interview, Bild: Youtube

Frankfurt/ Lhasa 8. September 2020 – Der tibetische Volksaufstand jährte sich am 10. März 2019 zum 60. Mal. Am 9. September 2020 gedenken wir nun der Errichtung des „Autonomen Gebiets Tibet“ vor 55 Jahren. Das nächste Jahr ist ein weiteres tibetisches Gedenkjahr: 1951 marschierten chinesische Truppen in Tibet ein, nachdem die Übernahme Chinas von der tibetischen Regierung formal anerkannt worden war. Der Widerstand der Tibeter wurde bislang nicht gebrochen, jedoch ist eine echte Autonomie noch immer nicht erreicht.

Warum ist dieses Gebiet überhaupt so wichtig für Peking?

Das tibetische Hochplateau ist eine der wichtigsten geostrategischen Regionen der Welt. Wer diese Gebirgsregionen kontrolliert, der kontrolliert den Zugang in alle vier Himmelsrichtungen, wie anlässlich der Grenzkonflikte zwischen Indien, Nepal und China immer wieder zu erfahren ist. Darüber hinaus ist Tibet reich an Rohstoffen, wie etwa Kupfer, Blei, Zink, Uran, Lithium, Silber, Gold und für seine hohen Wachstumsraten braucht das Reich der Mitte auch den Zugriff auf diese entlegenen Ressourcen. Aber nicht nur das.

Das tibetische Hochplateau ist auch das Quellgebiet fast aller großen Flüsse Asiens. Mit seinen Gletschern und Hochgebirgsseen ist es zudem ein gigantischer Wasserspeicher. Wir reden hier vom dritten Pol, nach der Arktis und der Antarktis das drittgrößte Gebiet auf der Welt, in dem Süßwasser in Massen gebunden wird. Mit seinem gigantischen Ausbauprogramm für Staudämme kontrolliert die Volksrepublik zunehmend mehr die Verwendung dieses Wassers, das für eigene Zwecke ab- und umgeleitet wird, zum Nachteil aller Länder, die erst dahinter an den Flussläufen liegen. Und alle Länder Asiens benötigen dieses Süßwasser als Existenzgrundlage. Daher lässt sich ernsthaft sagen: Wer das tibetische Hochplateau kontrolliert, der kontrolliert Asien!

Wie macht sich bemerkbar, wie bedeutsam Tibet für Peking ist?

Die Planungen in der Infrastruktur zeigen, wie sehr Peking bemüht ist, sich die Provinz Tibet einzuverleiben. Dazu gehört der Ausbau des Straßennetzes, das in großem Umfang geteert werden soll, damit große Lastwagen sie nutzen können, sowie die Planung eines neuen Flughafens in der Nähe der Provinzhauptstadt Lhasa. Dafür wurde bereits Agrarland von den tibetischen Bauern und anderen Dorfbewohnern im Umfeld von Lhasa beschlagnahmt oder weit unter Marktwert gekauft. Doch reichen Peking der Ausbau des Straßennetzes sowie der neue Flughafen bei Lhasa nicht allein, um Tibet logistisch zu versorgen und zu durchdringen. Nicht zuletzt deshalb fördert die kommunistische Parteiführung nicht zuletzt den Bau von Eisenbahnverbindungen vom chinesischen Tiefland auf das Dach der Welt. Im Jahr 2006 wurde dafür die Bahnverbindung zwischen Golmud und Lhasa fertig gestellt.

Aber auch dabei belässt es Peking nicht: Eine weitere Bahnverbindung von Chengdu nach Lhasa/ Pome ist in Planung. Mit beiden Zugverbindungen erreicht man in wenigen Tagen die tibetische Landeshauptstadt. Damit ergibt sich für hunderttausende von Han-Chinesen die Möglichkeit, sich in Tibet anzusiedeln. Das Bild der Städte sowie die Lebensart und -weise der Menschen verändert sich. Die einst dominierenden tibetischen Sitten und Traditionen sind kaum noch zu erkennen. Tibet wird nach und nach chinesischer.

Der kommunistischen Führung zufolge zeichnet sich gerade durch die Zuwanderung ein Wirtschaftsboom ab, was hingegen von tibetischer Seite kritisch kommentiert wird…

Ja, verständlich, denn der Boom entsteht sowohl durch Raubbau an der Natur, insbesondere Abholzung der Waldgebiete, Abtransport von Rohstoffen in die Produktionsstätten des chinesischen Tieflands, als auch durch den zunehmenden Tourismus, der von den Chinesen zu 100 Prozent kontrolliert wird. Touristen haben allerdings kaum Möglichkeiten, sich frei in Tibet zu bewegen, sondern werden von chinesischen Guides dorthin geführt, wo es aus chinesischer Sicht opportun ist. Der Wirtschaftsboom wird daher nicht nachhaltig sein, er ist lediglich ein Ausverkauf der Schätze des tibetischen Hochplateaus.

Wie zeigt sich für die Tibeter auf dem Dach der Welt die Besetzung im Alltag?

Von den wirtschaftlichen Entwicklungen profitiert die einheimische Bevölkerung nicht. Sie werden auch nicht in die Minen- und Bergbauprojekte der chinesischen Autoritäten einbezogen. Ob die neue Mine an einem für die Tibeter heiligen Berg errichtet wird oder nicht, spielt für die atheistische kommunistische Führung keine Rolle. Meist werden zu diesem Zweck auch tibetische Dorfbewohner und Nomaden zwangsumgesiedelt. Hinzu kommt eine stark steigende Umweltverschmutzung, die die Lebensverhältnisse dramatisch verschlechtert, einschließlich der Lagerung von Atommüll. Aber auch in den Städten, die aufgrund der Zuwanderung der Chinesen kaum noch als tibetisch bezeichnet werden können, ist ein Leben in der eigenen Kultur faktisch nicht mehr möglich. Weder wird die tibetische Sprache in Amtsstuben und Hochschulen akzeptiert, noch gibt es Medien, die in der Provinz Tibet die Meinung der Einheimischen wiedergeben. Tibeter sind damit längst Fremde im eigenen Land geworden.

Was sind die Forderungen der Tibeter?

Sie fordern ein sofortiges Ende der ökologischen Zerstörung des immerhin zweieinhalb Millionen Quadratkilometer großen tibetischen Hochlandes, die Beendigung des Raubbaus von Rohstoffen, Rücksichtnahme auf die religiösen und kulturellen Werte der einheimischen Bevölkerung und Achtung und Wahrung der Menschenrechte, einschließlich des völkerrechtlichen Grundsatzes des Rückkehrrechtes von Flüchtlingen. Am Ende natürlich auch die Forderung nach Autonomie Tibets innerhalb des chinesischen Staatsgebietes. Damit ist nicht die politische Bezeichnung der chinesischen Führung für die Provinz Tibet gemeint, die offiziell „Autonome Region Tibet“ heißt, sondern das Recht auf kulturelle Selbstverwaltung Tibets durch Tibeter, allerdings innerhalb der chinesischen Grenzen.

Der 14. Dalai Lama hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich um einen friedlichen, gewaltfreien Weg zur Erreichung dieser Ziele handeln muss. Die tibetische Exilregierung hat dies ebenso regelmäßig bestätigt. Die erfolglosen Gespräche der Vertreter Pekings und der Tibeter ist für viele Betroffene eine große Enttäuschung. Daher kommt es immer wieder zu zivilem Widerstand gegen die chinesischen Autoritäten, die offensichtlich nicht bereit sind, auf die friedlichen Bemühungen der tibetischen Seite einzugehen.

1951 marschierten chinesische Truppen in Tibet ein, nachdem die Übernahme Chinas von der tibetischen Regierung formal anerkannt worden war. Der Widerstand der Tibeter wurde bislang nicht gebrochen, jedoch ist eine echte Autonomie noch immer nicht erreicht.

Bild von Herbert Bieser auf Pixabay

Seit dem 50. Jahrestag des tibetischen Volksaufstands wird von einer Reihe von Selbstverbrennungen unter Tibetern berichtet. Was hat es damit auf sich?

Seit Jahrzehnten finden immer wieder Selbstverbrennungen statt, um auf die Unterdrückungspolitik Chinas und die damit verbundenen Qualen aufmerksam zu machen. Oft sind es tibetische Mönche, die sich öffentlich selbst anzünden, immer verbunden mit zwei Forderungen: das Recht zur Rückkehr des 14. Dalai Lama nach Tibet und ein Ende der gewaltsamen Unterdrückung. Diese Repression hat die chinesische Führung als Reaktion auf den Protest der Mönche immer wieder verstärkt. Trotzdem prägen sich die Bilder lebender Fackeln im Weltbewusstsein ein. Ein verzweifelter Einsatz für mehr Freiheit!

Welche Rolle spielt der Buddhismus im tibetischen Widerstand?

Der Lamaismus als besondere Form des tibetischen Buddhismus spielt im Widerstand eine zentrale Rolle. Hier wird die Konfrontation mit der kommunistischen Führung am deutlichsten. Schon Mao war der Auffassung, Religion sei Gift. Mit der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 erreichte der Konflikt einen furchtbaren Höhepunkt. Von ungefähr 1.000 Klöstern in Tibet wurden bis auf drei alle zerstört. Zwar wurden später einige wieder aufgebaut, aber etwa 90 Prozent liegen nach wie vor in Trümmern. Die chinesische Führung kontrolliert zudem den gesamten religiösen Ablauf in den Klöstern. Der Besitz von Bildern des Dalai Lama wird mit schweren Repressionen geahndet und sogar die Aufnahme neuer Mönche wird von staatlicher Seite geregelt.

Das Motiv dafür dürfte in der engen Verbindung zwischen Staat und Religion in der Geschichte Tibets begründet liegen. Jahrhundertelang war der Dalai Lama die Führungspersönlichkeit beider Bereiche. Eine Schwächung der Religion bedeutete zugleich eine Schwächung der politischen Spitze. Dies hat sich zwar 2011 im Exil geändert, denn die politische Verantwortung liegt seitdem in den Händen eines Ministerpräsidenten. Der 14. Dalai Lama ist aber nach wie vor ein Feindbild für die Kommunistische Partei Chinas. Daher bleibt der Druck, der auf den buddhistischen Mönchen lastet, anhaltend hoch.

In tibetischen Klöstern gibt es Rechtsprüfungen und Examen in Marxismus-Leninismus. Was ist da der Hintergrund?

Dies ist ein Stück des Kulturkampfes, der sich in Tibet täglich abspielt. Die chinesischen Kommunisten versuchen, die heiligen Stätten der Tibeter für ihre Zwecke einzunehmen. Atheistisches Gedankengut des Marxismus-Leninismus wird als geistiges Lehrmaterial in den Meditationszentren der althergebrachten tibetischen Kultur geprüft. Dadurch soll Geistige Überlegenheit und Dominanz dargestellt werden. In Wirklichkeit ist es eine Demütigung für gläubige Buddhisten, eine Missachtung ihres Rechts auf freie Religionsausübung und ein Mangel an Respekt vor ihrer Kultur.

Der Volksaufstand fand erst acht Jahre nach dem Einmarsch Chinas in der tibetischen Hauptstadt Lhasa statt. Anfangs war ein Kulturkampf in diesem Ausmaß wohl nicht absehbar, oder?

Nach der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 gab es zwischen Mao und dem 14. Dalai Lama zunächst relativ viel Übereinstimmung. Gegenseitige Besuche und Verhandlungen erweckten zumindest den Eindruck von gegenseitigem Respekt. Vereinbart wurde u.a., dass die Zentralbehörden den Klöstern unverändert ihre Einkünfte belassen, so Punkt 7 des 17-Punkte Abkommens zwischen der kommunistischen Regierung in Peking und der tibetischen Führung aus dem Jahr 1951. Die Tibeter verlangen auch heute nichts anderes, als die Einhaltung dieser vertraglichen Vereinbarungen. Religion, Sitten und Gebräuche des tibetischen Volkes sollten dem Vertrag zufolge respektiert und die Lamaklöster geschützt werden.

Seit Jahren finden Gesprächsrunden zwischen Vertretern des Dalai Lama und der Regierung in Peking statt, wie Sie selbst sagten, ohne Erfolg. Über was für ein Territorium sprechen die beiden Seiten überhaupt?

Leider geht es um ganz unterschiedliche Gebiete. Dies dürfte auch einer der größten Konfliktpunkte im Ringen um Tibet sein. Das tibetische Siedlungsgebiet ist historisch viel größer als die 1965 von Peking eingerichtete „Autonome Region Tibet“. Peking hat den tibetischen Raum mit der Gründung dieser Provinz faktisch mehr als halbiert. Die tibetischen Regionen Amdo und Kham im Nordosten und Osten wurden han-chinesischen Provinzen, Qinghai und Sichuan, zugeschlagen. Natürlich will die tibetische Exilregierung dies nicht einfach hinnehmen und pocht auf eine Neustrukturierung der Gebiete.

Wie reagiert die Kommunistische Partei Chinas darauf?

Peking ist nicht bereit nachzugeben. Wer den Status quo kontrolliert, hat meist kein Interesse daran, Dinge zu verändern. So ist es auch mit der Kommunistischen Partei Chinas. Offensichtlich hat man dort noch nicht erkannt, dass die Tibeter nicht der gefährliche Gegner sind, für den sie die Chinesen halten. Es war im Jahr 763, als die Tibeter in China einfielen und die Hauptstadt und zwei Provinzen eroberten. Doch das ist lange her. Daraus immer noch ein Bedrohungsszenario abzuleiten, ist geradezu grotesk!

Wie kann die freie Welt den Tibetern helfen?

Tibet muss zurück auf die Tagesordnung der internationalen Politik. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie Menschen in vielfältiger Weise ihrer Heimat beraubt werden und wie eine Kultur heimlich stirbt! Wir dürfen die Menschenrechtsverletzungen dort nicht hinnehmen! Ob in Deutschland oder bei internationalen Organisationen, Politiker weltweit müssen sich wieder des Themas annehmen. Peking muss klar gemacht werden, dass das Gewaltfreiheitsangebot der tibetischen Seite eine historische Chance ist, um die Probleme auf dem Dach der Welt einvernehmlich zu lösen. Diese Chance wird nicht ewig bestehen bleiben. Wer eine Eskalation in der Zukunft vermeiden will, muss heute handeln. Ein Kompromiss ist nur möglich, wenn man ernsthaft miteinander verhandelt. Dafür muss die Pekinger Führung ihr Desinteresse an den berechtigten Forderungen der Tibeter ablegen.

Der Politikwissenschaftler Ingmar Niemann ist Dozent für Asienkunde an der Technischen Universität München. Das Interview führte IGFM-Referentin für Religionsfreiheit Michaela Koller.

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