Genitalverstümmelung auch in Deutschland

Interview mit Dr. Sabine Müller, Ärztin bei der Beratungsstelle ‚Balance‘, die 1992 in Berlin gegründet wurde.

Werkzeuge einer Beschneiderin

Die Tatsache, dass auch in Deutschland beschnittene Frauen leben, bzw. hier beschnitten werden, ist vielen nicht bekannt.  Können Sie sagen, wie viele Frauen, die in Deutschland leben, betroffen sind?

Laut einer Umfrage des Statistischen Bundesamtes im Jahre 1997 lebten in Deutschland etwa 22.000 beschnittene Frauen und 6000 gefährdete Mädchen, das heißt Mädchen, die im beschneidungsfähigen Alter sind. Erfasst sind hier allerdings nur die Frauen, die legal in Deutschland leben. Aufgrund der Erfahrungen aus unserer Sprechstunde für nichtversicherte Frauen, also meist Frauen, die sich illegal in Deutschland aufhalten, schätzen wir, dass diese Zahl mindestens verdoppelt werden muss. Wir gehen daher von 50.000 beschnittenen Frauen und 10.000 gefährdeten Mädchen in Deutschland aus. Weltweit sind zirka 160 Millionen Frauen betroffen und jedes Jahr kommen 2 Millionen weitere dazu.

Woher kommen Ihre Patientinnen, das heißt, welchem Kulturkreis, Religion, sozialer Schicht gehören die Frauen an?

Unsere Patientinnen kommen aus allen Ländern Afrikas und aus dem Nahen Osten. Sie gehören verschiedenen Religionen an, sind also Muslima, Christinnen und auch Jüdinnen. Beschneidungen kommen in allen sozialen Schichten vor. Natürlich ist es so, dass die Frauen aus der gebildeten Oberschicht leichter den Weg in die Beratungsstelle finden. Ich kann mich noch erinnern, dass unsere ersten Patientinnen zwei Medizinstudentinnen waren.

Was sind die Gründe dafür, dass heute Mädchen noch beschnitten werden und wer führt dies durch?

Die Gründe liegen in der Tradition. Beschneidungen gehören zur kulturellen Identität und sind darin fest verwurzelt. Im modernen Afrika gibt es allerdings schon viele Aufklärungskampagnen von verschiedenen Gruppen, Organisationen und auch von den Regierungen. Aber gerade den Menschen, die ausgewandert sind, fällt es schwerer, ihre Bräuche aufzugeben. Sie halten stärker an den Traditionen ihres Heimatlandes und den damit verbundenen Werten fest.

In den Heimatländern werden Beschneidungen nach wie vor von traditionellen Beschneiderinnen durchgeführt. Geändert hat sich allerdings, dass Menschen, die Geld haben, heute die Beschneidungen von Ärzten oder anderem medizinischen Hilfspersonal durchführen lassen.

Von wem werden Beschneidungen in Deutschland durchgeführt? Welche Möglichkeiten sehen Sie, dagegen vorzugehen?

Es gibt drei Möglichkeiten, Mädchen, die in Deutschland leben, beschneiden zu lassen. Die erste ist, die Mädchen in den Schulferien in das Heimatland zu bringen um dort die Beschneidung vornehmen zu lassen. Die zweite ist, den Eingriff von medizinischem Personal in Deutschland gegen Geld vornehmen zu lassen. Es gibt auch hier Ärzte, die dies tun und nicht nur afrikanische, sondern auch deutsche Ärzte. Die dritte Möglichkeit wurde in England bekannt. Dort werden Beschneiderinnen aus den Herkunftsländern eingeflogen, wenn eine bestimmte Anzahl von Mädchen beschnitten werden soll und genügend Geld vorhanden ist.

Gegen Beschneidungen vorzugehen ist sehr schwierig. Wer soll denn bestraft werden? Falls die Eltern verurteilt werden, hätte dies ihre Ausweisung zur Folge, was wiederum ein großer Nachteil für die Kinder darstellen würde.

Eigentlich müssten die Ärzte bestraft werden. Doch die Rechtslage ist unklar. Zwar sind Beschneidungen Körperverletzung, jedoch ist mir kein Fall bekannt, bei dem ein Arzt wirklich verurteilt worden wäre. Die Beweislage ist sehr schwierig. Selbst in einem Fall, wo Filmaufnahmen vorhanden waren und Anzeige erstattet worden war, hat die Staatsanwaltschaft nicht ermittelt. Mir ist nicht bekannt, warum. Dieser Arzt hat dann Gegenanzeige wegen Rufschädigung erstattet, die Klage wurde jedoch abgewiesen.

Mit welchen Problemen und Erwartungen kommen die Frauen in die Beratungsstelle?

Hauptsächlich mit medizinischen Anliegen, weil die Frauen Schmerzen haben, aber auch zum Beispiel wegen einer Schwangerschaft. Manche Frauen wissen genau, was sie wollen, wenn sie in die Sprechstunde kommen, weil sie das schon von Freundinnen oder Verwandten kennen. Das ist jedoch eine kleine Gruppe. Meistens verläuft der Besuch in der Beratungsstelle so, dass die Frauen ihr Problem schildern und sich über die Möglichkeiten beraten lassen. Sich dann beispielsweise für eine Operation zu entscheiden, kann lange dauern. Man muss sich das so vorstellen, dass viele der Frauen ihr Genital ja nicht anders kennen, eine Veränderung bedeutet wieder etwas Neues, Fremdes. So haben infibulierte Frauen beispielsweise keinen Strahl beim Urinieren, sondern der Urin tröpfelt aus der Scheide, jedoch ist es in manchen Ländern unanständig, einen Strahl zu haben. Die Frauen werden mit solchen Werten groß, das muss in die Beratung mit einbezogen werden. Trotz Aufklärung darüber, erschrecken noch viele Frauen nach der Operation.

Beschneidung ist nach wie vor ein Tabu, viele der Frauen sind traumatisiert. Welche Unterstützung können Sie als Beratungsstelle neben der medizinischen Hilfe geben?

Wir haben die Beratungsstelle Familienplanungszentrum Berlin e.V. gegründet, mit der wir ganz eng zusammenarbeiten. Dort stehen Sozialarbeiterinnen, Pädagoginnen, Psychologinnen, Krankenschwestern und Hebammen für Beratungen zur Verfügung. Die Beratungen umfassen inhaltlich alles, was Familienangelegenheiten betrifft, also auch Familienplanung, Sexualitätsberatung und so weiter, und werden entweder als Einzel-, Paar-, Familien- oder Gruppengespräche angeboten.

Was hindert die Frauen, die nicht in die Beratungsstelle kommen, daran, dies zu tun?

Wie bereits erwähnt kommen in unsere Beratungsstelle hauptsächlich die gebildeteren Frauen. Andere Frauen werden wahrscheinlich durch Tabus und sprachliche Barrieren von einem Besuch abgehalten.

Welche Anliegen und Ängste haben die Männer von beschnittenen Frauen und gibt es für sie auch Beratungsangebote?

Viele Männer haben Angst, ihren Frauen wehzutun oder sie weiter zu verletzen. Ein Mann kam in die Beratungsstelle, weil die Frau seines Bruders in der Hochzeitsnacht verblutet war. Er wollte wissen, wie er das bei seiner Frau verhindern kann. Bei den Männern gibt es sehr viele Unsicherheiten und Ängste. Die Männer werden dann im Rahmen von Paargesprächen betreut.

Welche Hilfen fehlen Ihrer Meinung nach in Deutschland, um genitalverstümmelten Frauen adäquat helfen zu können?

Geld. Für unsere Arbeit erhalten wir kein Geld und finanzieren uns durch Spenden und Einnahmen aus anderen medizinischen Bereichen. Wir brauchen ganz dringend Geld, um Operationen durchführen zu können und sind immer auf der Suche nach Spendern. Eine Operation kostet etwa 500 Euro für Personal, Material und Sachkosten. Wir bemühen uns sehr, dass niemand aus Geldmangel nicht operiert werden kann, das heißt, wir suchen Menschen, die das finanzieren oder arbeiten kostenlos.

In Berlin gibt es sehr viele Aufklärungskampagnen, Workshops, Seminare und Vorträge zum Thema Genitalverstümmelung und auch in anderen Städten haben sich Initiativen gegründet. Was fehlt ist allerdings, dass Beschneidung bei den Ärzten als Diagnose klassifiziert wird. Das ist bis jetzt noch nicht geschehen, was zur Folge hat, dass es keine Therapie dafür gibt, eine Behandlung nicht abgerechnet werden kann und auch nicht im Lehrplan in der Ausbildung vorkommt.

Es hängt also von der Eigeninitiative der Ärzte ab, sich darüber zu informieren. Genitalverstümmelte Frauen werden in Deutschland leider medizinisch gesehen als Exotinnen behandelt und somit wird für sie zum Teil nicht die richtige Art der Hilfe angeboten.

Was können muslimische Gemeinschaften leisten, um dem Problem der Genitalverstümmelung entgegen zu treten?

Beschneidungen sind ein prä-islamischer Brauch und auch in anderen afrikanischen Religionen zu finden, deshalb spielt es keine Rolle, welcher Religion eine Initiative angehört. Es gibt auch religiöse Sekundärrationalisierungen dieser Tradition, die gibt es aber genauso in anderen Zusammenhängen. So wird beispielsweise in Kriegszeiten gesagt, dass Beschneidungen vor Vergewaltigungen durch die Feinde schützen. Es gibt eine Vielzahl von Mythen und Erklärungen dieser Bräuche, es gibt aber keinen speziell islamischen Hintergrund dafür.

Werden Betroffene bei Balance kostenlos beraten? Was sind die Voraussetzungen für eine Beratung?

Generell werden die Frauen und Männer kostenlos beraten, allerdings mit der Einschränkung, dass für die Erstuntersuchung ein Beitrag von 10 Euro geleistet werden muss. Das erhöht die Verbindlichkeit gegenüber der Beratungsstelle, zum Beispiel bei der Einhaltung der Termine und führt dazu, dass unsere Leistungen besser geschätzt werden. Wenn jemand kein Geld dafür hat, bemühen wir uns, jemanden zu finden, der den Arztbesuch finanziert.

Die Fragen stellte Monika Rickert.


(Credit Vorschaubild: Amnon Shavit, Wikipedia Commons CC BY 3.0./ Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Campaign_road_sign_against_female_genital_mutilation.jpg)

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