Die Wiedereinführung des islamischen Strafrechts im Iran
Unter dem Jubel der Massen zog Ayatollah Khomeini am 1. Februar 1979 in Teheran ein, nachdem eine Volkserhebung die so stabil scheinende Herrschaft des Schahs Mohammed Reza Pahlawi binnen weniger Monate weggefegt hatte. Im Laufe dieser Erhebung, die von einer breiten Front politischer Kräfte getragen worden war, hatten die geistlichen Führer immer mehr an Bedeutung gewonnen; die Errichtung eines islamischen Staates war zur Lösung geworden, die den Wunsch nach einer besseren Zukunft ausdrückte. Nachdem Reza Schah Anfang der zwanziger Jahre die Qāğāren-Dynastie abgesetzt und die Macht an sich gerissen hatte, versuchte er in atemberaubendem Tempo, seinem großen Vorbild Atatürk nachzueifern und das Land zu verwestlichen. Mag es auch eine kleine Schicht gegeben haben, die sich rasch an diese Lebensformen gewöhnte, so bedeutete doch die Überflutung mit fremden Einflüssen, materiellen Gütern und Ideen für die große Masse der Bevölkerung eine Entwicklung, der sie oft ablehnend, fast schon verstört, gegenüberstand.
Ein wichtiger Sektor, in dem Reza Schah die Verwestlichung durchsetzte, war das Rechtswesen. Von altersher hatte hier ein Dualismus bestanden. Einerseits oblag die Rechtsprechung Gelehrten des religiösen Rechts, dessen Vorschriften weite Bereiche des Lebens bestimmten. Daneben gab es aber auch eine weltliche Jurisdiktion, vornehmlich für Fragen des Verwaltungsrechts, zum Teil auch für Handels- und Strafsachen, die von Verwaltungsbeamten nach Gewohnheitsrecht ausgeübt wurde.[1] Die Rechtsprechung durch weltliche Beamte war auch in der Verfassung (Art. 2 und Art. 27 Verfassungsergänzungsgesetz von 1907) verankert, die in den Jahren 1906/ 1907 dem Schah von einer Koalition von liberalen und religiösen Kräften[2] abgetrotzt worden war und die das erste Gesetz europäischen Stils im Iran darstellte.[3] Bald gab es weitere Versuche der Neuordnung von Rechtsgebieten nach europäischem Muster, nämlich beim Prozeßrecht. So wurde 1911 als erstes ein Gerichtsverfassungsgesetz erlassen, das schon Bestrebungen zeigte, die geistliche Gerichtsbarkeit zurückzudrängen. 1912 wurde eine Strafprozeßordnung ausgearbeitet und von einer Parlamentskommission vorläufig in Kraft gesetzt. Obwohl nie vom Parlament verabschiedet, wurde sie dennoch so angewendet, als ob das geschehen sei.
Wenn man das Strafrecht bis zu dieser Zeit betrachtet, so lassen sich als wichtigste Charakteristika feststellen, daß es nicht gesetzlich festgelegt, sondern, abgesehen von den grundlegenden Versen im Koran, in den in typischer Weise nach einem bestimmten Schema aufgebauten Lehrwerken und Kommentaren sowie Gutachtensammlungen zum islamischen Recht niedergelegt war. Dies gilt jedoch nur für den Kernbereich, nämlich die im Koran erwähnten hadd- und qisās-Straftaten, die Tötung, Körperverletzung, Diebstahl, Straßenraub, Trunkenheit, Sexualdelikte und besondere Formen der Verleumdung umfassen.[4] Alle anderen je nach Zeit und Ort strafwürdig erscheinenden Verhaltensweisen waren dogmatisch nicht bearbeitet und wurden eher als pragmatische Angelegenheit der Obrigkeit angesehen.
Verwestlichung des iranischen Rechtssystems und schwindender Einfluss der Geistlichen
Reza Schah nahm die weitere Verwestlichung des iranischen Rechts energisch in Angriff. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wurde eine ganze Reihe von Gesetzen erlassen, wie z.B. ein Zivilgesetzbuch und ein Handelsgesetzbuch. 1926 trat ein Strafgesetzbuch in Kraft. Pate stand bei diesem wie bei den übrigen Gesetzen vor allem das französische Recht, dem es zugute kam, daß es schon von anderen muslimischen Staaten übernommen worden war, und daß Frankreich in Iran keine Kolonialinteressen verfolgte. Mochte auch die erste Fassung dieses Strafgesetzbuchs in Artikel 1 noch eine später aufgehobene salvatorische Klausel zugunsten des islamischen Rechts vorgesehen[5] und zunächst noch in einer Reihe von Vorschriften vor allem bei den Tötungs- und Sexualdelikten stark auf das islamische Recht Rücksicht genommen haben, so wurden diese doch zum Teil schon bald aufgehoben (Gesetz vom 27.4.1931), und die islamischen Züge verblaßten fast bis zum Verschwinden.
Von größter Bedeutung für die Durchsetzung des neuen Rechts war die Verdrängung der Geistlichkeit aus der Justiz, die noch weithin deren Domäne war. 1927 erging ein Gesetz, daß Täter von Straftaten, die in dem neuen Strafgesetzbuch vorgesehen waren, von weltlichen Gerichten abzuurteilen seien; 1931 schließlich wurden die Artikel 416 bis 429 der Strafprozeßordnung aufgehoben, in denen geistliche Gerichte für alle hadd- und qisas- sowie gewisse ta’zir-Straftaten vorgesehen waren. Damit entfiel jegliche Zuständigkeit geistlicher Gerichte in Strafsachen. Auch in Zivilsachen wurde die geistliche Gerichtsbarkeit sehr stark eingeschränkt.[6]
Rückkehr des islamischen Rechts
Für einen islamischen Staat ist die Anwendung islamischen Rechts ein zentrales Charakteristikum. So war es eine Selbstverständlichkeit, daß die Islamische Republik Iran nach ihrer Konstituierung Ende März 1979 die Wiedereinführung des islamischen Rechts, auch des islamischen Strafrechts, zu ihren Postulaten erhob (Art. 4, 156 Nr. 4, 5 der Verfassung von 1979). Zu einer offiziellen Kodifizierung des islamischen Strafrechts kam es jedoch erst in den Jahren 1982/1983, wenn man einmal von der knappen Formulierung des Gesetzes zur Gründung der Revolutionsgerichte vom 17. Juni 1979[7] absieht, die Gerichte hätten „nach islamischem Recht“ (Art. 12) zu urteilen. Trotzdem ist bekannt, daß bereits vor 1982 im nachrevolutionären Iran islamisches Strafrecht bzw. das, was der einzelne Richter darunter verstand, angewendet wurde.[8]
Das neue iranische Kernstrafrecht war kein einheitliches Gesetzbuch. Es bestand zunächst vielmehr aus vier Gesetzen, von denen eines sogar in zwei Abschnitten erlassen wurde, nämlich dem hudud- und qisas-Gesetz, dem diya-(Blutgeld-)Gesetz und den beiden Gesetzen über die islamischen Strafen.[9] Diese Gesetze wurden in einem Verfahren gemäß Artikel 85 der Verfassung in Kraft gesetzt, d.h. das Parlament beauftragte eine Kommission mit der Erarbeitung der Gesetze unter vorläufiger Inkraftsetzung für eine bestimmte Zeit, die in den vorliegenden Fällen auf fünf Jahre festgesetzt wurde. Nach Ablauf dieser Frist mußte an sich eine endgültige Bestätigung durch das Parlament erfolgen. Bei diesen Gesetzen wären also 1987 und 1988 entsprechende Bestätigungsgesetze zu erwarten gewesen, die jedoch nicht erlassen wurden. Daraus darf aber nicht der Schluß gezogen werden, daß die Gesetze stillschweigend außer Kraft getreten seien. Zum einen kannte das iranische Recht schon früher den Fall, daß ein wichtiges Gesetz, nämlich die oben erwähnte Strafprozeßordnung, in einem entsprechenden Verfahren in Kraft gesetzt und, obwohl sie nie vom Parlament bestätigt wurde, als weiterhin in Kraft befindlich angesehen wurde. Zum anderen ist auf eine Rechtsauskunft der entsprechenden Kommission des Obersten Gerichtshofs hinzuweisen, der auf die Frage, ob das ta’zir-Gesetz anzuwenden sei, geantwortet hat, das Gesetz sei solange anzuwenden, bis das Parlament eine Änderung beschlossen und verkündet habe.[10] Schließlich hat der Oberste Justizrat im Dezember 1987 in einem Erlaß dazu aufgefordert, diese Gesetze auch weiterhin anzuwenden.[11] So auch verfahren, bis schließlich 1991 die drei Gesetze von 1982 zu einem einzigen Gesetz zusammengefaßt und dabei zwar im Aufbau stark, inhaltlich aber wenig modifiziert wiederum nach Artikel 85 der Verfassung in Kraft gesetzt wurden.
Grundzüge des islamischen Strafrechts
Islamisches Strafrecht ist nicht wie das europäische Recht auf diesem Gebiet in einen Allgemeinen Teil, der für alle Straftaten gültige Regeln enthält, und einen Besonderen Teil aufgeteilt, der die Straftatbestände im einzelnen umschreibt und festlegt. Das islamische Strafrecht besteht vielmehr traditionell aus drei isoliert nebeneinanderstehenden Teilen, von denen jeder seine eigene Struktur und Dogmatik aufweist, nämlich den hadd-, qisas- und ta’zir-Delikten.
Das Gesetz über die islamischen Strafen von 1991 brachte hier eine Neuerung, indem es eine weitere Deliktsart schuf, nämlich die mit „abhaltenden Strafen“[13] bedrohten Delikte, deren Tatbestände reinen Zweckmäßigkeitserwägungen entsprechen und nicht wie die nunmehr enger verstandenen ta’zir-Straftaten auf die Verletzung eines islamischen Gebots oder Verbots zurückzuführen sind.[14]
Erläuterung einzelner Gesetzesartikel der Gesetzesänderung vom 8.5.1370/30.7.1991
Das Gesetz über die islamischen Strafen vom 8.5.1370/30.7.1991[15] umfaßt 496 Artikel, die in vier Bücher unterteilt werden, nämlich 1. Allgemeines, 2. hadd-Strafen, 3. Vergeltung, 4. Blutgeld.
Erläuterung der Ermessensstrafen des ta’zirat-Gesetzes vom 18.5.1362/9.8.1983
Das ta’zirat-Gesetz von 1983, das einem Besonderen Teil entspricht, lehnt sich eng an den Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs von 1926 an. Das wird nicht nur durch den fast identischen Aufbau, sondern auch durch die Formulierung der einzelnen Artikel deutlich. Die einschneidendste Veränderung war die Herausnahme derjenigen Artikel, die die Straftaten regelten, die heute als hadd- und qisas-Delikte gelten. Die dadurch entstandenen Lücken im Gesetz wurden nicht immer durch eine sorgfältige Redaktion des Textes ausgeglichen. So ist zu erklären, daß z.B. die im Gesetz verbliebenen Vorschriften über Diebstahl und Hehlerei sich im Abschnitt über Falscheid und Offenbarung von Geheimnissen (Art. 106 ff.) finden oder daß ein anderer Abschnitt die Überschrift „Straftaten gegen Personen und gegen Kinder“ trägt. Typisch islamische Straftaten wurden kaum hinzugefügt, wenn man einmal von dem Verbot des Küssens zwischen Unverheirateten (Art. 101) oder dem Gebot für Frauen, die religiös vorgeschriebene Kleidung zu tragen, absieht (Art. 102). Herausgenommen wurde ebenfalls der Rauschgiftkonsum, der heute in Nebengesetzen geregelt ist. Angefügt wurden schließlich die Verkehrsstraftaten, die wiederum zuvor in einem eigenen Gesetz enthalten waren.[25]
Von besonderem Gewicht ist die Änderung des Strafensystems. An die Stelle der kurzen Freiheitsstrafen ist häufig die Auspeitschung getreten. Die immer wiederkehrende Zahl von vierundsiebzig Peitschenhieben bei den ta’zir-Strafen erklärt sich daraus, daß die niedrigste in diesem Gesetz vorkommende hadd-Strafe bei fünfundsiebzig Peitschenhieben liegt (Art. 138), und die Auspeitschung als ta’zir-Strafe der Schwere nach unter der entsprechenden hadd-Strafe liegen muß (Art. 16). Ferner sind in diesem ta’zir-Gesetz Geldstrafen weitestgehend zurückgedrängt. Was jedoch häufiger als früher vorgesehen ist, besonders im Bereich der Sachbeschädigung und der Urkundenfälschung, ist die Verurteilung zu Schadensersatz neben der Strafe, was allerdings eher auf den Gesichtspunkt der Prozeßökonomie (Vermeidung des Zivilprozesses), als etwa auf Überlegungen zur Wiedergutmachung als Strafe zurückzuführen sein dürfte, die allerdings im islamischen Recht in einem anderen Bereich, nämlich bei den Talionsdelikten, einen angestammten Platz hat.
Erwähnt sei schließlich, daß es über diese Gesetze hinaus auch in Iran ein umfangreiches Nebenstrafrecht gibt, das in zahlreichen Gesetzen verstreut ist Die beiden im Anhang aufgeführten Gesetze wurden hier deshalb aufgenommen, weil sie Vorschriften des ta’zir-Gesetzes von 1983 modifizieren, auch wenn deren Wortlaut nicht verändert wurde.
Abschließend muß noch angemerkt werden, daß die persischen Gesetzestexte sprachlich nicht so präzise durchredigiert sind, wie wir das von deutschen Texten gewöhnt sind. So tauchen immer wieder leicht voneinander abweichende Formulierungen für gleiche Aussagen auf. Andere Eigenheiten ergeben sich aus der persischen Sprache, z.B. die beliebte Nebeneinanderstellung von Synonymen. So mußte immer wieder der angemessene Mittelweg zwischen der philologisch genauen Übersetzung und einem lesbaren JuristenDeutsch gefunden werden. Da sich die Übersetzung in erster Linie an Juristen und nicht an Philologen wendet, wurde in derartigen Fällen dem deutschen Stil der Vorzug gegeben, es sei denn, es kam an der betreffenden Stelle juristisch auf die persische Formulierung an.