Äthiopien: Kampf gegen Genitalverstümmelung
Mit dem islamischen Fundamentalismus breitet sich die weibliche Genitalverstümmelung in manchen Gegenden der Welt eher aus, als dass sie zurückgeht
Von Renate Bernhard und Sigrid Dethloff

Eine Beschneiderin in Äthiopien. Bild: Christof Engel, kindernothilfe.de
Als 1984 zum ersten Mal zwei Afrikanerinnen auf einem Kongress in der senegalesischen Hauptstadt Dakar die Beschneidung von Frauen und Mädchen als menschenverachtendes Unrecht anprangern, brechen sie nicht nur ein Tabu, sie schaffen den Grundstein für eine ganz neue Entwicklung für die Frauen ihres Kontinents. Widerstand formiert sich gegen ein Ritual, das bis dahin nie angezweifelt worden war.
Genitalverstümmelung, zum Teil seit Jahrtausenden nicht nur hier, sondern auch in einigen Ethnien Indiens, Malaysias oder auch Australiens praktiziert, wird als das bekannt gemacht, was sie ist: Eine lebensgefährliche Bedrohung für Leib und Leben. Studien werden erstellt und man erfährt, dass nahezu jedes vierte Mädchen in Folge der Beschneidung stirbt.
Heute gibt es in fast allen der über 20 afrikanischen Länder, wo die Frauenbeschneidung praktiziert wird, Aufklärungsinitiativen. Unsere Autorinnen Renate Bernhard und Sigrid Dethloff sind nach Addis Abeba gereist, um sich ein Bild davon zu machen, was sich dort in den letzten Jahren getan hat.
Die Reise geht in ein Land mit einer der höchsten Sterblichkeitsraten von Kindern und Frauen weltweit. Auch nach bald 15 Jahren Aufklärungsarbeit werden immer noch rund 70 Prozent der Äthiopierinnen beschnitten, egal ob sie koptische Christinnen oder Muslima sind.
Das ‚Komitee gegen traditionelle Praktiken‘ in der Hauptstadt Addis Abeba sieht dies als Erfolg an. Früher hätte die Rate bei rund 90 Prozent gelegen, so die Leiterin Abebech Alemneh. Allerdings, so räumt sie ein, beziehen sich die Erfolgszahlen fast nur auf die Städte. Auf dem Land, wo die Analphabetenrate zum Teil bei nahezu 100 Prozent liegt, habe sich noch wenig getan. Hier glaubten die Menschen immer noch, die Beschneidung sei eine religiöse Pflicht.
Je nach Ethnie – in Äthiopien sind es 70 verschiedene Volksgruppen – werden die Mädchen im Alter zwischen zwei Tagen und 14 Jahren beschnitten. Klitoridektomie oder Sunna ist die teilweise oder komplette Beschneidung der Klitoris. Bei der Exzision werden auch die kleinen Schamlippen abgeschnitten. Bei der pharaonischen Beschneidung oder Infibulation wird alles entfernt, oft auch noch die Scheide ausgeschabt und anschließend das Geschlecht bis auf ein streichholzgroßes Loch zugenäht.
„Hier in der Stadt, da könnt ihr das ganze Ausmaß dieses Rituals gar nicht erfassen“, sagt Dr. Zerau, Gynäkologe und Chefarzt der größten Klinik in Adis Abeba. Er organisiert einen Jeep vom Gesundheitsministerium und fährt mit uns morgens gegen vier in die Region der Afar. Rund 300 Km nordöstlich von Adis Abeba entfernt lebt dieses islamische Nomadenvolk.
Auf den sandigen Straßen eine Acht-Stunden-Fahrt. Je weiter wir fahren, desto trockener wird die Landschaft. Die Lebensbedingungen der Afar sind hart. Sie leben in einem Malariagebiet in geflochtenen Rundhütten, die, wann immer die Nahrung für Tier und Mensch knapp wird, leicht wegtransportiert werden können. Wasser und Feuerholz müssen kilometerweit hergeschleppt werden – die Frauen sind dafür zuständig.
Als wir die kleine Nomadensiedlung am Nachmittag erreichen, scharen sich sofort zahllose Kinder um uns. Lachend entblößen sie ihre spitz gefeilten Zähne – auch ein alter Brauch, über dessen Schädlichkeit das Komitee aufklären will. Ein Mann versucht die Neugier der Kinder mit einer Peitsche zu bändigen. Die Kleinen weichen ihr aus wie ein Fliegenschwarm.
Wie alle ihres Berufstandes gehört die Beschneiderin zur Generation der Großmütter. Sie ist eine geachtete Persönlichkeit in ihrem Stamm und verfügt über eigenes Geld. Sie wisse, dass das Zunähen die Geburten erschwere, sagt die Beschneiderin schulterzuckend und weist – wie zum Gegenbeweis – mit ihrem rostigen, mit schmutzig-roten Stofffetzen umwickelten Klappmesser auf die riesige Kinderschar um sie herum. Es stände in der Bibel, sei eine Sitte aus dem Koran. Und solange die Säuglingsmädchen nicht beschnitten seien, jucke es immer. Sie hörten erst auf zu schreien, wenn man ihnen ihr Ding abschneide.
Andere Ethnien nennen neben hygienischen, auch ästhetische Gründe. Auch kursiert die Überzeugung, die Potenz des Mannes und die Fruchtbarkeit der Frau könne durch die Beschneidung positiv beeinflusst werden. Genährt werden diese Vorstellungen unter anderem durch Mythen, wie dem Folgenden (zitiert nach Charlotte Beck-Karrer: ‚Löwinnen sind sie‘):
„Von Anbeginn hat jeder Mensch zwei Seelen, eine Weibliche und eine Männliche. Beim Mann sitzt das Weibliche in der Vorhaut, bei der Frau das Männliche in der Klitoris. Die Nommo aber sahen, dass diese Doppelnatur für die Menschen ungeschickt sei und dass eine Entscheidung getroffen werden müsse? Deshalb beschnitten die Nommo den Mann an der Vorhaut, die sich in eine Eidechse verwandelte, die Frau an der Klitoris, die sich in einen Skorpion verwandelte. Das Blut, das bei der Beschneidung fließt, ist eine Opfergabe an die Nommo, an die Ahnen, und an die Erde. Mit dem irdischen Ursprung haben die Menschen aber auch eine böse Kraft aufgenommen, die sich Klitoris und Vorhaut sammelt. Drei Dinge werden also bewirkt: Die Festlegung des Geschlechtes, ein Opfer, eine Reinigung.“
Volksglaube und Mythen werden leicht mit den Religionen verwechselt und bekommen so ihre Macht. Weder in der Bibel, noch im Koran steht eine Anordnung zur Frauenbeschneidung. Das Ritual ist viel älter. Eine viertausend Jahre alte Mumie beweist das. Der Prophet Mohammed soll einer Beschneiderin lediglich geraten haben, nicht zu tief zu schneiden. Und das folgende Zitat ist von ihm überliefert: „Beschneidung ist für Männer eine Pflicht, für Frauen ist sie eine Ehre.“
Die Afar-Beschneiderin weiß nichts von all dem. Gestern wurde wieder ein Mädchen geboren, morgen wird es mit dem blutigen Ritual in die weibliche Gemeinschaft seines Stammes integriert. Nach UNO-Schätzungen wird es eins von etwa 6000 Mädchen sein, die jeden Tag weltweit verstümmelt werden. Die Großmutter des Kindes wird sich mit der Beschneiderin im Morgengrauen treffen. Die Frau wird die äußeren Genitalien des Mädchens wegschneiden, alles mit Akaziendornen zusammenstecken und dann die Beine des Kindes zusammenbinden, um es wochenlang unbeweglich zu halten, bis Haut gewachsen ist, wo die Natur ein Sexualorgan gemeint hat.
Wenn das Kind nicht dabei stirbt, ist der hohe Preis für die Beschneidung eine Investition in die Zukunft. Unbeschnittene Mädchen gelten als hässlich und schmutzig und finden keinen Ehemann. Doch um in der Wüste zu überleben, braucht jede Frau einen Ehemann. Die Arbeit der Beschneiderin bestimmt den Brautpreis, denn die angehende Schwiegermutter wird genau kontrollieren, wie gut die Braut zugenäht ist, ob sie ihren Preis also wert ist.
„Unsere Einstellung zu Sex?“ fragt Dr. Dehab Belaj vom Komitee für traditionelle Praktiken in Addis Abeba und lacht ein traurig-scheues Lachen. „Das ist ein Tabu und eine natürliche Verpflichtung. Wir wurden dazu erzogen, dass die Frau da zu sein hat, als gute Frau, gute Mutter, gut in allem. Sie ist nicht dafür geschaffen, das Leben zu genießen. Sex genießen? Vergessen sie das. Sex ist schrecklich.“ Das gelte besonders für die pharaonisch beschnittenen Frauen. „Wenn eine Frau heiratet, muss entweder jemand von ihrer Familie eine kleine Öffnung machen, oder der Ehemann penetriert sie gewaltsam. Manchmal benutzt er dafür auch eine Klinge.“
Die studierte Biochemikerin war früher Hebamme. Kaum zehn Jahre ist es her, da stand sie selbst noch am Anfang eines gravierenden Bewusstseinswandels. Dass Beschneidungen Geburten erschweren, war ihr trotz jahrelanger Praxis nicht aufgefallen. Sie kannte ja praktisch keine unbeschnittenen Frauen. „Ich habe ein einziges Mal eine unverstümmelte Frau gesehen“, erinnert sie sich an eine Frau, deren unversehrtes Geschlecht sie damals merkwürdig berührte. „Ich dachte, sie käme von einer anderen ethnischen Gruppe.“ Heute weiß sie es besser: „Jede Beschneidung hinterlässt Narbengewebe. Bei der Geburt reißt das dann oft. Jedes Mal, wenn sie ein Baby kriegt und das können vier, fünf, sechs Babys sein, dann öffnen sie, schließen sie, öffnen sie sie.“ Bei den Nomaden auf dem Land geschehe das natürlich unsteril und mit den abenteuerlichsten Werkzeugen: Rasierklingen, abgebrochene Glasstücke, auch scharfe Steine. „So wird das Gewebe immer härter. Am Ende ist dann da nichts mehr außer einer großen Wunde.“
Höchste Müttersterblichkeit
In Ostafrika, wo die pharaonische Beschneidung am weitesten verbreitet ist, die Müttersterblichkeit weltweit am höchsten ist, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen bei 48 Jahren. Die Menschenrechtsorganisation ‚Terre des Femmes‘ schätzt, dass jede dritte zugenähte Frau bei der Geburt stirbt. Verbluten, Tetanus, Abszesse, Wundbrand sind die unmittelbaren Folgen der Beschneidung. Harnwegserkrankungen und Staus des Menstruationsblutes durch den verengten Ausgang die Regel. Und nur die wenigsten Frauen haben Zugang zu medizinischer Versorgung. Aufgrund von Spenden eines österreichischen Ehepaares gibt es in Addis Abeba jetzt eine Spezialklinik für Frauen, die an den schlimmsten Spätfolgen leiden: Fisteln. Häufig entstehen sie zwischen Blase und Scheide. In Folge von Geburtsverletzungen gibt es aber auch Fisteln zwischen Darm und Scheide. Frauen, die daran leiden, werden in der Regel – wegen des unangenehmen Geruchs, den sie verbreiten – aus der Gesellschaft ausgestoßen.
Vor einigen Jahren hat die Äthiopische Regierung nun eine Verfassungsänderung veranlasst. Dort heißt es, alles, was einen negativen Einfluss auf die Gesundheit von Frauen hat, solle verboten werden. Eine Absichtserklärung, denn bislang werden Beschneiderinnen nicht strafrechtlich verfolgt. „Sie wissen nicht um die negativen Konsequenzen ihrer Praxis“, erklärt Komitee-Leiterin Abebech Alemneh. Wie will man auch 70 verschiedene Ethnien mit jeweils unterschiedlichen Kulturen, von denen viele als Nomaden in geographisch entlegenen Gebieten leben, kontrollieren? Das Komitee beschränkt sich vorerst auf Aufklärungskampagnen, Workshops, Seminare und Umschulungsmaßnahmen für die Beschneiderinnen.
Im Armenviertel von Addis Abeba treffen wir eine solche Beschneiderin. 20 Jahre lang hat diese Frau Mädchen verstümmelt. Nun hat sie an einer mit UN-Mitteln finanzierten Umschulungsmaßnahme teilgenommen. Die Ausbildung zur Hebamme soll ihr alternative Einkommensmöglichkeiten verschaffen. Stolz zeigt sie ihren schneeweißen Kittel, den Koffer mit UN-Aufdruck und die medizinischen Instrumente. Sie sei sogar von Tür zu Tür gegangen, sagt sie. In ihrem Viertel würden die Mädchen jetzt nicht mehr beschnitten. Wie die Männer das denn jetzt aufnähmen, wollen wir wissen. Manche Männer fanden, mit Klitoris sei eine Frau männlich, habe die gleichen Gefühle und den gleichen Zugang zu Sex und das ginge nicht. Es habe aber auch schon Männer gegeben, die mit ihren beschnittenen Frauen in die Klinik gingen, weil die gar nichts spürten.
Nach zehn Jahren Aufklärungsarbeit bleibt noch viel zu tun. Dass dies Arbeit für Generationen ist, zeigt das Beispiel von Dr. Dehab Belaj. Ihre Tochter wurde noch von der Großmutter zur Beschneiderin gebracht. Erst die Enkelin kann sicher sein, dass ihr dieses Schicksal nicht mehr blüht. Doch solche Erfolge gibt es nicht überall. Mit dem islamischen Fundamentalismus breitet sich die weibliche Genitalverstümmelung in manchen Gegenden der Welt eher aus, als dass sie zurückgeht.