Ukraine – Vortrag Liusiena Zinovkina

Die Ukrainerin Liusiena Zinovkina spricht auf der 53. Jahrestagung der IGFM im März 2025 über den russischen Angriffskrieg und die zahlreichen zivilen Gefangenschaften – darunter auch ihr Ehemann Kostiantyn.
„Sie nehmen einem alles weg – die Freiheit, und manchmal sogar das Leben.“
Bonn, der 29.03.2025
Guten Tag, mein Name ist Liusiena Zinovkina. Heute möchte ich ein Thema ansprechen, das leider zu wenig Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erhält, obwohl sein Ausmaß überwältigend ist. Ich spreche von den zivilen ukrainischen Gefangenen. Es geht nicht um Kriegsgefangene, sondern um Zivilisten, die von Russland illegal festgenommen oder vielmehr in den besetzten Gebieten entführt
werden.
Zur Aufzeichnung der Rede von Liusiena Zinovkina
Ich muss mich seit zwei Jahren mit diesem Thema beschäftigen, da mein Mann Kostiantyn zu denjenigen gehört, die auf gewaltsame Weise von Russland entführt und wegen fiktiver Verbrechen vor Gericht gestellt wurden. Mein Mann und ich haben den Krieg in verschiedenen Städten erlebt – ich in Kyiv und er in unserer Heimatstadt Melitopol, die 2022 in den ersten Tagen vom russischen Militär besetzt wurde.
Da es sinnlos und gefährlich für mich war, in die besetzte Stadt zurückzukehren, und die russischen Truppen bereits in der Region Kyiv vorrückten, wurde ich nach Deutschland evakuiert. Es war sehr beängstigend und nichts war klar, aber mein Mann sagte: „Wir müssen unsere Chancen verdoppeln. „Wenn wir an verschiedenen Orten sind, wird einer von uns auf jeden Fall überleben.“ Seitdem lebe ich in Berlin und lerne Deutsch, was gar nicht so einfach ist, muss ich sagen. In der Ukraine habe ich ein Studium als Sozialarbeiterin gemacht und jetzt arbeite ich als Familienhelferin.

Liusiena Zinovkina bei der Jahrestagung 2025 / Foto: Michael Leh (IGFM)
Kostiantyn ist in unserer Heimatstadt geblieben, weil er seine alte Mutter und Großmutter nach einem Schlaganfall nicht verlassen wollte. Wir haben am 11. Mai 2023 zum letzten Mal mit ihm telefoniert, und am 12. Mai hat er unsere Wohnung verlassen und ist nicht mehr zurückgekommen. Stattdessen kamen drei unbekannte Männer in unser Haus, durchsuchten die gesamte Wohnung, nahmen alle
Dokumente, Geld, Schmuck, Auto-, Werkstatt- und Datscha-Schlüssel mit. So läuft das in den besetzten Gebieten.
Wenn man mit der „Befreiung“, wie Putin sie stolz nennt, nicht einverstanden ist, verschwindet man und sie nehmen einem alles weg. Sie nehmen einem das Wichtigste weg – die Freiheit, und manchmal sogar das Leben.
Es ist unmöglich, die genaue Zahl der zivilen Gefangenen zu ermitteln, derzeit sind es etwa 16.000. Es sind Ukrainer, die gegen die Besatzung waren, die nicht über die „russische Welt“ erfreut waren, die für ihre Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft
haben. Sie sind zu Demos mit blauen-gelben Flaggen gegangen, sie haben feindliche Militärfahrzeuge mit bloßen Händen gestoppt, Verbrechen gefilmt, die von russischen Soldaten begangen wurden, waren Freiwillige, haben Menschen geholfen, aus den besetzten Städten zu fliehen, brachten humanitäre Hilfe.
Aber der Preis für Menschlichkeit und Liebe zu ihrem Land war sehr hoch. Früher oder später sind all diese Menschen verschwunden und verschwinden bis zum heutigen Tag. Kostiantyn wurde im besetzten Melitopol vom russischen Geheimdienst FSB entführt, weil er die „russische Welt“ nicht akzeptieren wollte, die „Befreiung“ nicht gefeiert hat und einfach nur in seiner ukrainischen Heimatstadt leben wollte.
Er ist ein ziviler, friedlicher Mensch. Er ist kein Soldat, er hat keinen militärischen Hintergrund. Er ist ein Patriot der Ukraine, wie viele andere. Aber das ist kein Grund, ihn ins Gefängnis zu werfen.

Kostiantyn Zinovkin, in russischen Staatsmedien als Verbrecher dargestellt
Die Russen wollten Kostiantyn lächerlich machen, als sie ihn im Oktober 2023 im russischen Fernsehen gezeigt haben und ihn „kranken Menschen“ und „Zombie“ genannt haben. Er hat ihnen im Fernsehen ins Gesicht gesagt, dass Russland ein terroristisches Land ist und die Ukraine unabhängig ist. In diesem Propagandavideo sehen wir jedoch keinen gebrochenen Mann, sondern einen willensstarken,
unbeugsamen Ukrainer, der auch in russischer Gefangenschaft weiter Widerstand leistet.
Dafür hat Russland ihn des Terrorismus beschuldigt. Sie behaupten, er habe gestanden, jemanden in die Luft sprengen zu wollen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass der FSB ihn unter Druck und schrecklicher Folter zu einem Geständnis gezwungen hat. Er wurde im November 2024 vor ein militärischem Gericht in Rostow-am-Don in Russland gestellt. Er hatte bisher drei Anhörungen, die letzte – an diesem Mittwoch. Wie viele noch, ist – unbekannt. Russen nennen es einen Prozess, bringen einige Zeugen und Opfer, machen alles „nach dem Gesetz“. Ich nenne das einen absurden, zynischen Schauprozess und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Vor einer Woche hatte ich eine schreckliche, von Angst erfüllte Nacht. Ich wurde einem psychischen Terror ausgesetzt. Die ganze Nacht über hat ein Unbekannter an meiner Gegensprechanlage geklingelt. Auf die Frage, wer da ist, habe ich keine Antwort bekommen. Und sobald ich eingeschlafen bin, wiederholte sich das Ganze immer wieder. Es ging bis vier Uhr morgens so weiter, bis ich die Polizei gerufen habe.
Zum Glück bin ich frei. Ich lebe in einem sicheren Land. Ich kann die Polizei rufen, die kommt und mich schützt. Ich kann mit meinen Freunden in Kontakt bleiben. Nach dieser schrecklichen Nacht ist meine Schwester am nächsten Abend zu mir gekommen, um bei mir zu übernachten, damit ich mich nicht so alleine gefühlt habe. Aber ich habe festgestellt, wie schnell sich mein psychischer Zustand verändert hat – buchstäblich über Nacht. Ich war verängstigt. Ich hatte Angst, meine Wohnung zu verlassen.
Und in diesem Moment dachte ich an meinen Mann, der seit zwei Jahren in einem russischen Gefängnis psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt ist. Er hat keine Möglichkeit, um Hilfe zu rufen. Niemand kann ihn dort beschützen. Er steht unter ständiger Videoüberwachung. In seiner Zelle bleibt das Licht Tag und Nacht eingeschaltet.
Für 24 Personen gibt es nur 8 Betten. Jede Sekunde können Gefängniswärter in die Zelle stürmen und tun, was sie wollen – oder was ihnen befohlen wird. Wie fühlt sich mein Mann also? Und wie lange wird er das noch durchhalten? Ich könnte noch viel mehr berichten. Im Laufe der Jahre haben wir viele schreckliche
Momente erlebt. Monate voller Angst und Ungewissheit.

Aktivistin Liusiana Zinovkina bei einer Demonstration zu ukrainischen zivilen Gefangenen
Aber ich möchte nicht nur reden. Ich möchte handeln. Ich will meinem Mann und anderen von Russland illegal inhaftierten zivilen Gefangenen helfen. Einige von ihnen sitzen seit 2014 in russischen Gefängnissen. Ohne die Hilfe der zivilisierten Welt, ohne Unterstützung der europäischen Politiker, haben unsere Angehörigen keine Chance auf eine Rückkehr in die Heimat. Bis heute gibt es keinen Mechanismus für die Rückkehr ziviler Gefangener, weil diese nicht dem Austausch von Kriegsgefangenen unterliegen.
Ich bitte um Ihre Hilfe. Das Thema zivile Gefangene muss stärker thematisiert werden. Menschen werden von Ort zu Ort transportiert. Sie werden gefoltert, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt. Russland versucht, sie zu brechen. Und die Welt verschließt weiterhin die Augen.
Für welchen Frieden und welche Freiheit kämpfen wir überhaupt ?

Liusiana Zinovkina bei der Jahrestagung 2025 / Foto: Michael Leh (IGFM)