„Mach meinen Kindern keine Angst, nimm das Sturmgewehr weg“

Interview vom 18.04.2023

Oleksij Sidorenko

Serhij Bobko, ein Bewohner des besetzten Dorfes Bohdaniwka, versteckte seine Töchter im Keller, als ein russischer Soldat das Haus betrat. Glücklicherweise wurde an diesem Tag niemand verletzt. Serhij und seine Familie verließen kurz darauf das Dorf, und als er zurückkehrte, fand er sein Haus beschädigt und geplündert vor.

Mein Name ist Serhij. Ich wohne im Dorf Bohdaniwka. Am 8. März, gegen 10 Uhr morgens, drangen russische Truppen in unser Dorf ein. Wir hörten verschiedene Geräusche, Schüsse, das Rumpeln von Militärfahrzeugen auf der Straße.

Waren viele Militärfahrzeuge da?

Ich habe sie nicht gesehen, aber ich konnte sie gut hören.

Später haben wir Videos von anderen Leuten gesehen. Sie sagten, dass es mehr als 200 Einheiten [militärischer Ausrüstung] waren. Ich kann die genaue Zahl nicht sagen. Sie [die russischen Truppen] drangen in das Dorf ein, begannen in den Höfen herumzulaufen, stellten Menschen vor die Häuser und überprüften, wo die Leute wohnten. Sie kamen zu unserem Haus und fragten, wer dort wohnt.

Mit wem haben Sie zusammengelebt?

Ich habe allein gewohnt, aber ich habe Kinder und eine Frau. Sie wohnten in einem Nachbardorf, aber sie waren hier bei mir. Ich habe sie am 24. Februar zu mir geholt, als ich merkte, dass die Invasion schon begonnen hatte. Wir versteckten uns alle in meinem Keller.

Waren die Russen bei Ihnen?

Einmal kamen sie und fragten, wer im Haus sei. Ich sagte: „Die Kinder sind im Haus. Erschreckt sie nicht. Kommen Sie rein, wenn Sie wollen, aber nehmen Sie das Sturmgewehr weg“. Er [der Soldat] war allein. Er kam rein, sah sich um. Er bot mir sogar etwas Essen an, aber ich lehnte ab. Und das war’s, er ging und kam nicht wieder. Aber sie kamen später zurück, als wir geflohen waren und das Haus leer war. Sie haben die Fenster und Türen eingeschlagen. Sie haben das Haus verwüstet.

Wie lange waren Sie im Dorf?

Wir konnten nicht evakuieren, obwohl wir ein Auto hatten. Wir konnten rausfahren, aber sie [die russischen Truppen] ließen uns nirgendwohin fahren. Wenn ein Auto auf der Straße stand, haben sie darauf geschossen und es zerstört. Das geschah mehrmals: hier in dieser Straße, in der Nähe unseres Hauses und so weiter. Ich hatte Glück, dass ich mein Auto vorher in meinen Hof gestellt hatte, so wurde es nicht beschädigt!

In der Nähe zerstörten sie [die russischen Truppen] die Räder des Autos meiner Verwandten und schlugen die Scheiben ein, so dass das Auto nicht mehr fahren konnte. Später begannen sie [die russischen Truppen] damit, die Leute zu evakuieren. Dann begann der Beschuss. Ich verstand, dass unsere Armee versuchte, das Dorf zurückzuerobern. Am 21. März fand die erste Evakuierung, der sogenannte „Grüne Korridor“, statt. Meine Frau und meine Kinder gingen, und am 23. März ich selbst. Es gab viele Busse und Autos. Ich fuhr mit meinem eigenen Auto. Zuerst haben sie [die russischen Truppen] uns nicht durchgelassen. Dann kamen die Vertreter des Roten Kreuzes, verhandelten und schließlich konnten wir fahren.

Wohin wurden Sie evakuiert?

Meine Familie und ich sind zuerst nach Browary [eine Stadt in der Region Kyjiw] gegangen. Später bin ich alleine weiter. Meine älteste Tochter hatte einen Knorpelbruch an der Wirbelsäule und konnte nicht weit transportiert werden. Also gingen meine Kinder und meine Frau zu Verwandten in das Dorf Rudnja. Dort waren keine Russen, das Dorf war nicht besetzt. Ich kehrte am 10. April in mein Dorf zurück, als es sicher war und wir zurückkehren durften.

Was geschah mit Ihrem Haus?

Hinter der Scheune ist eine Granate eingeschlagen. Ich weiß nicht, was für eine Granate es war, aber es gab kein Feuer. Dort, wo die Granate einschlug, war ein knietiefes Loch. Die Scheune wurde zerstört, das Haus beschädigt.

Sie konnten dort also nicht wohnen?

Nun, ich habe die Türen ausgetauscht, die Löcher in den Wänden repariert, die Fenster ersetzt und jetzt wohne ich dort.

Wie oft wurde Bohdaniwka bombardiert?

Es wurde sehr oft bombardiert. Sie [die russischen Truppen] stellten ihre militärische Ausrüstung auf dem Bauernhof nebenan auf, also praktisch neben unseren Häusern. Die Russen dachten, wenn sie ihre Ausrüstung in der Nähe unserer Häuser aufstellen, würde unsere Armee sie nicht bombardieren. Aber unsere Armee musste dorthin schießen, wo die russische Ausrüstung war, um sie aus dem Dorf zu vertreiben. Ich konnte die Schüsse sehr gut hören, es war sehr beängstigend. Das ging Tag und Nacht so. Meine Töchter haben immer noch Angst vor lauten Geräuschen. Es war sehr schwer für sie.

Wie viele Häuser sind in Bohdaniwka zerstört worden?

Ziemlich viele. Ich denke, dass etwa 15 Prozent aller Häuser zerstört wurden. Damit meine ich die komplett zerstörten Häuser und zähle nicht jene, die teilweise beschädigt wurden sind. Viele Häuser haben kaputte Wände, Dächer, Fenster, Türen. Viele Häuser wurden ausgeraubt. Ich kann sagen, dass jedes zweite Haus ausgeraubt wurde, wenn nicht sogar jedes Haus.

Haben die Russen geplündert?

Ich war damals nicht dort, aber mein Haus wurde geplündert und schwer beschädigt. Meine Schwester und ich haben ein Haus mit zwei Eingängen, also wurden Türen und Fenster eingeschlagen, und in unserem Haus herrschte völliges Chaos. Also ja, die Russen haben geplündert. Sie sind in die Häuser gekommen und haben alles Wertvolle mitgenommen: Gold, Geld, alles, was sie wollten. Niemand war da, um sie aufzuhalten.

Was wurde gestohlen?

Alles: meine Elektrowerkzeuge, Mikrowellen, sogar der Boiler wurde zerschlagen. Ich weiß nicht, was sie im Boiler gesucht haben. Das Haus war voller Staub. Aber ich weiß nicht, ob sie im Haus gewohnt haben oder nicht.

Hätten Sie sich vor dem 24. Februar vorstellen können, dass es zu einem ausgewachsenen Krieg kommt?

Nein, überhaupt nicht. Wie konnten sie angreifen? Wir leben im 21. Jahrhundert! Was für ein Krieg könnte das sein? Niemand hatte eine Ahnung. Um ehrlich zu sein, ich habe nicht einmal die Nachrichten gesehen. Es hat mich nicht interessiert. Am 24. Februar, als die Bombardierungen begannen und die Nachricht kam, dass die Invasion begonnen hatte, war ich bei meiner Tochter: Sie hatte am 22. Februar Geburtstag. Am 24. weckten mich meine Töchter und sagten: „Papa, da sind Explosionen!“ Ich antwortete: „Das kann nicht sein, das sind nur Feuerwerkskörper… Vielleicht feiert jemand etwas…“ Und dann geschah es. Ich fuhr nach Bohdaniwka, um mein Auto aufzutanken. Und da waren so lange Schlangen an den Tankstellen! Mir wurde klar, dass die Situation ernst war.

Dann nahm ich die Mädchen mit zu mir nach Hause, weil ich einen Keller hatte und wir uns dort verstecken konnten. Wir dachten gar nicht daran, das Dorf zu verlassen. Wir haben einfach nicht geglaubt, dass sie [die russischen Truppen] so nah kommen würden. Dann hörten wir den Lärm ihrer Ausrüstung. Sie fingen an, aus Panzern zu schießen. Es wurde geschossen. Da fingen wir an, uns im Keller zu verstecken. Dort haben wir die ganze Zeit verbracht. Nur wenn es Strom und Gas gab, gingen wir nach oben, um Essen zu kochen. Später, als es keinen Strom und kein Gas mehr gab, kochten wir alles draußen auf dem Feuer.

Sie haben zwei Kinder?

Ja, zwei Töchter. Die eine ist jetzt 19, die andere 12. Sie saßen im Keller, und ich sah nach, ob sie [die russischen Soldaten] zu unserem Haus kamen. Die Russen haben geschossen. Sie fuhren einfach mit ihren Panzern vorbei und schossen auf die Häuser. Wir sind nicht rausgegangen, sie haben uns verboten, auf die Straße zu gehen. Sie kamen zu den Leuten und sagten: „Wenn ihr wollt, bleibt in euren Häusern, aber geht nicht raus!“ Später haben sie uns erlaubt, bis 17 Uhr auf die Straße zu gehen. Sie gingen herum und kontrollierten die Häuser. Sie zögerten nicht, Häuser in der Öffentlichkeit auszurauben, Leute zu verprügeln. Sie taten, was sie wollten. Wenn sie ein leeres Haus sahen, brachen sie einfach die Türen und Fenster auf, gingen hinein und raubten aus.

Es gab Situationen, in denen Menschen in Bohdaniwka verschwunden sind. Ich weiß, dass drei Leute verschwunden sind. Einer wurde getötet. Man fand ihn in einem Keller in Dymerka [einem Dorf in der Region Kyjiw]. Er hieß Oleksiy und wir waren Freunde. Er hatte einen Schuss ins Schlüsselbein und in den Kopf erhalten. Er war ungefähr 43 Jahre alt und hatte zwei Kinder, eine Mutter und eine Schwester. Er war ein sehr guter Mensch und Schweißer. Damals verschwanden viele Menschen. Ich möchte mich an nichts erinnern! Es ist wie ein böser Traum: zu schrecklich, um sich daran zu erinnern.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Ich werde auf unseren Sieg warten. Was haben wir sonst noch vor… Wir wollen leben, unseren Staat wieder aufbauen. Wir müssen arbeiten und unsere Kinder großziehen. Wir müssen unser Haus und unseren Besitz wieder aufbauen.

Hat sich Ihre Einstellung gegenüber den Russen geändert?

Natürlich hat sie sich geändert! Was soll ich denen sagen? Dass sie Teufel sind? Das wissen wir doch alle. Was kann ich sonst sagen? Sie wissen, was sie uns angetan haben. Wie viel Leid sie über die Menschen gebracht haben. Jeder, der in dem Staatsduma neben Putin sitzt, neben ihrem Geldtrog, ist schuldig. Denn von denen kommen alle Befehle. Aber die Russen… Sie sind süchtig nach Propaganda, sie glauben ihrem Fernsehen. Tatsächlich gibt es Leute, die wissen, was passiert, und die die Ukraine unterstützen. Manche kämpfen sogar für die Ukraine. Das ist wahr. Es gibt Russen, die für unseren Staat kämpfen.

Das Interview wurde von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe vorbereitet und von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte übersetzt.

Teilen Sie diesen Beitrag!

Nach oben