Freie Religionsausübung unmöglich

Die Situation der Christen in der Türkei wird stetig schwieriger

Warum werden Christen in der Türkei verfolgt?

In der Türkei herrscht ein stark ausgeprägter Nationalismus, oftmals auch mit fanatischen Zügen vor, der Christen und nicht sunnitische Muslime grundsätzlich benachteiligt. Es existiert ein großer gesellschaftlicher Druck, der sich vor allem auf zum Christentum konvertierte Muslime auswirkt. Sie werden mit sozialer Isolierung von Familie und Gesellschaft konfrontiert, denn nach allgemeiner Auffassung kann nur ein Muslim ein wahrer Türke sein. Alles andere würde die Ehre des Landes und der Familie verletzen. Davon sind auch nicht-konvertierte Christen betroffen, die ethnischen Minderheiten angehören. Vor allem der Kurdenkonflikt hat die ohnehin bereits prekäre Situation der Christen, insbesondere die der syrischen, weiter verschärft. Sie sind dem Druck der türkischen Regierung, kurdischer Clans, der PKK und deren gegensätzlichen Interessen ausgeliefert. Die christliche syrische Landbevölkerung wird von kurdischen Clans aus ihrer Heimat vertrieben.

Auch der misslungene Putschversuch im Sommer 2016 hat dazu beigetragen, dass der sunnitische Islam mehr und mehr zur Staatsreligion geworden ist und das Christentum sowie dessen Schutz an Bedeutung verloren haben. Der vermeintliche Urheber des Putsches, Fethullah Gülen, lebt in den USA und wird von diesen nicht an die türkische Regierung ausgeliefert, da keine ausreichenden Beweise vorliegen. Die USA werden in der Türkei allgemein als christlich wahrgenommen, weswegen sich die Situation der Christen weiter verschlechtert hat. Sie werden oft als Spione des Westens angesehen.

Das Kreuz ist das zentrale Symbol im Christentum. Bekennen sich Christen in der Öffentlichkeit zu ihrem Glauben, droht ihnen in vielen Fällen soziale Isolation.

Wie sieht Christenverfolgung in der Türkei aus?

Einschränkungen erfahren Christen in der Türkei in allen Lebensbereichen. Im Privatleben sind vor allem Konvertiten dem Druck der Familie ausgesetzt. Bekennen sich Christen öffentlich wie z.B. im Internet zu ihrem Glauben, kann das neben dem sozialen Druck auch zum Jobverlust oder sogar zu ernsthafter Bedrohung führen, die über soziale Ächtung hinausgeht. Auch das Tragen christlicher Symbole in der Öffentlichkeit birgt Gefahren. Aufgrund dessen sehen sich viele Christen und besonders Konvertiten dazu genötigt eine Art Doppelleben zu führen und ihren Glauben nur im Privaten und heimlich zu praktizieren. Dieser Umstand wird in der türkischen Gesellschaft als Normalzustand akzeptiert und kaum thematisiert, solange es nicht zu körperlichen Angriffen kommt.

Auch die Kinder christlicher Eltern sehen sich oft der Diskriminierung ihres Umfeldes ausgesetzt. In der Türkei wird die Religionszugehörigkeit im Ausweis angegeben bzw. bei den neuen Ausweisen auf einem elektronischen Chip gespeichert. Sind Kinder laut ihres Passes muslimisch, sind sie verpflichtet in der Schule am islamischen Religionsunterricht teilzunehmen. Eine Freistellung könnte beantragt werden, wenn auch die Religionszugehörigkeit im Pass geändert wird. Das wäre allerdings ein soziales Stigma und die Diskriminierung der Kinder würde sich weiter intensivieren.

Christliche Paare werden gegenüber muslimischen Paaren benachteiligt. Sie haben kaum Chancen auf eine Adoption. Und auch die eigenen Kinder können sie aufgrund des gesellschaftlichen und sozialen Drucks nur unter schwierigen Bedingungen nach ihren eigenen Glaubenswerten erziehen. Christlichen Riten wie Hochzeiten oder Beerdigungen werden Hindernisse in den Weg gelegt. Anträge auf die Errichtung christlicher Friedhöfe wurden in einigen türkischen Landesteilen abgelehnt. Ehepartnern von Konvertiten wird gelegentlich zur Scheidung geraten. Auch kann es zu Schwierigkeiten im Erbrecht kommen.

Immer wieder kommt es zu Hetzkampagnen gegen die christliche Minderheit in der Türkei. Eine ungestörte Glaubensausübung ist kaum möglich.

Wie sieht die rechtliche Situation aus?

Religionsfreiheit wird zwar in der Türkei per Verfassung garantiert, jedoch sind alle Religionen, die nicht dem sunnitischen Islam entsprechen, dennoch benachteiligt. In der Verfassung steht, das „Türkentum“ solle bevorzugt werden. Die Benachteiligung erstreckt sich auf alle Lebensbereiche wie Jobsuche, Medien und öffentliche Glaubensbekenntnisse. Baugenehmigungen für neue Kirchen sind nur schwerlich zu erhalten. Selbst die Renovierung und Reparatur bereits vorhandener Kirchengebäude muss staatliche bewilligt werden, was häufig verwehrt wird. Es wurden in der Vergangenheit mehrere christliche Bauten von der Regierung beschlagnahmt, von denen einige nicht zurückgegeben wurden. Vereine mit einem klar christlichen Profil werden streng überwacht. Offizielle Ausbildungen von Kirchenleitern sind nicht möglich. Diese finden dann meist im Ausland statt. So wird auch ausländischen Mitarbeitern religiöser Organisationen häufig die Einreise verwehrt.
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Aktuelles Problem: Ausweisungen von nicht-türkischen Christen

Betroffen von den Ausweisungen sind Christen, die ursprünglich nicht aus der Türkei stammen, jedoch häufig bereits seit Jahrzehnten dort leben und sich in die Gesellschaft integriert haben. Manche besitzen sogar die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Regierung zielt vor allem auf die Ausweisung der Christen, die in ihren Gemeinden besonders aktiv sind und/oder missionarische Arbeit betreiben. Bekannt gewordene Fälle betreffen Deutsche, Briten, Finnen, Amerikaner, Kanadier, Australier, Neuseeländer und Österreicher, die im Großraum Istanbul, Ankara und Izmir ansässig waren. Auch deren Angehörige sind häufig von den Ausweisungen mitbetroffen. Eine offizielle Begründung der Behörden gibt es nicht.

Einzig eine „Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ oder der „nationalen Sicherheit“ wurden als oberflächliche, nicht weiter konkretisierte Gründe angegeben. Betroffene Christen bekommen einen Stempel in ihren Pass, den Code N-82 oder G-82, der ihre Wiedereinreise in die Türkei verhindert. In Kenntnis gesetzt werden die Betroffenen häufig erst bei ihrer Ausreise oder sogar erst bei ihrer versuchten Wiedereinreise. Die ersten Ausweisungen fanden im Juli 2017 statt und fanden im letzten Jahr vorerst ihren Höhepunkt. 2019 waren ungefähr 60-70 Personen betroffen. Viele der betroffenen Christen haben Klage eingereicht. Die IGFM fordert hierzu den rechtlichen Beistand von Botschaften und Konsulaten der Herkunftsländer der Betroffenen.

Die Pauluskirche im türkischen Tarsus, dem Geburtsort des Apostels Paulus, ist eine wichtige christliche Pilgerstätte. Sie wurde 1943 vom türkischen Staat beschlagnahmt und bis heute nicht zurückgegeben. Bildquelle: Nedim Ardoğa

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