Ausgestoßene im eigenen Land

Die koptisch-orthodoxe Kirche ist die ursprüngliche Kirche Ägyptens (,koptisch‘ bedeutet »ägyptisch‘). Sie wurde im ersten Jahrhundert vom Evangelisten und Apostel Markus gegründet, der in Ägypten missionierte. Die koptische Kirche ist nie Staatskirche gewesen, immer wieder erfuhren ihre Anhänger Verfolgung und Unterdrückung. Deshalb wird sie auch ,Kirche der Märtyrer‘ genannt. Das Oberhaupt der koptischen Kirche, derzeit Shenouda III., trägt den Titel ‚Papst von Alexandrien und Patriarch des heiligen Stuhls von St. Markus‘.

Fouad Ibrahim ist emeritierter Professor für Sozialgeographie und Regionale Geographie Afrikas an der Universität Bayreuth. Er wurde 1938 in Damanhur, Ägypten, geboren. In seiner Forschung setzt er sich unter anderem mit Migrationsprozessen, Identitätswandel und interkulturellen Beziehungen auseinander. Auch zum Islam sowie zur Zuwanderung ägyptischer Kopten nach Deutschland hat Ibrahim Beiträge veröffentlicht. Ilka Thomsen sprach mit ihm über die Situation der koptischen Christen in Ägypten. Das Interview fand Ende 2002 statt, ist aber nach wie vor aktuell.

 

Professor Ibrahim, Sie sind koptisch-orthodox aufgewachsen.
Hatten Sie als Kind deswegen Schwierigkeiten?

Gesellschaftlich an den Rand gedräng: Viele Kopten müssen an und von den Müllkippen Kairos leben.

Ja. Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind im Kirchhof gewesen bin, da haben die Muslime Steine geworfen gegen die Kirche. Ich kriegte einen an den Kopf – ein ziemlich schlimmer Unfall. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, wurden Christen auf der Straße beschimpft, die Priester auch. Ganz abgesehen davon, dass mein Vater, ein Beamter, 40 Jahre lang nicht befördert wurde. So musste ich als Kind erfahren, dass der Vater bei der Arbeit benachteiligt wird. Es sind kleine Erinnerungen, Dinge, die man in einer feindlichen Atmosphäre erlebt hat und die einem das Gefühl gaben, ausgestoßen zu sein aus der Gesellschaft.

 

1965 kamen Sie nach Deutschland. Was war der Grund, Ägypten zu verlassen?

Meine Frau. Wir hatten uns 1960 in Irland getroffen, wo wir damals beide studierten. Wir haben vereinbart, entweder kommt sie nach Ägypten oder ich nach Deutschland. Ich war schneller. (lacht)

 

Hatten Sie nach Ihrer Ausreise Schwierigkeiten?

Die ersten sieben Jahre bin ich nicht nach Ägypten gefahren. Erst als ich die deutsche Staatsbürgerschaft besaß. Ich konnte der Familie wegen nicht riskieren, die Ausreisegenehmigung nicht wieder zu bekommen.

 

Über den Anteil der Kopten an der ägyptischen Bevölkerung findet man sehr unterschiedliche Angaben. Was macht es so schwer, diese Zahl zu bestimmen?

Die offizielle Statistik sagt: weniger als sechs Prozent. Die koptische Kirche sagt: bis zu 20 Prozent. Aber diese Zahl zu veröffentlichen, wäre ein Affront gegen den Staat. Geht man in Kairo durch das Viertel Schubra, wo zwei bis drei Millionen Menschen leben, hat man den Eindruck, mindestens ein Viertel sind Christen. Die offiziellen Zahlen erscheinen also sehr willkürlich.

 

Warum versucht der Staat, die Zahlen zu drücken?

Ägypten fühlt sich als Führer der arabischen Welt, als großes kulturelles Zentrum. Das Image Ägyptens ist islamisch. Diesem Image würde es schaden, zu sagen, dass man so viele Christen im Land hat. Die Regierung will die islamische Welt beeindrucken. Das Ziel eines islamischen Landes ist ja die Beseitigung der ‚Ungläubigen‘. Und außerdem: Wenn die Regierung zugäbe, dass es so viele Kopten gibt, müsste sie sich fragen lassen, warum diese in Regierung oder Administration nicht entsprechend repräsentiert sind.

 

Also fälscht die Regierung einfach die Statistik?

Nun, es gibt noch andere Gründe, weshalb die Zahlen niedriger sind, selbst wenn man der Regierung nicht unterstellt, die Statistik zu verfälschen: Viele Kopten haben Angst vor Verfolgung und Benachteiligung. Wenn bei der Volkszählung ein Staatsbediensteter kommt und einen Bauern auf dem Lande fragt, welche Religion er hat, kann es sein, dass der aus Angst sagt: Moslem.

Ein anderer Beamter setzt sich hin, trinkt Tee und macht seine Kreuzchen selbst, anstatt die Leute zu befragen. Dabei geht er nach der Wahrscheinlichkeit vor. Und es ist wahrscheinlicher, dass jemand Moslem ist. Oder wenn ein Analphabet zum Amt geht, um einen Personalausweis zu beantragen – etwa 50 Prozent der Erwachsenen in Ägypten können nicht lesen und schreiben – kann es leicht geschehen, dass er einen Ausweis bekommt, in dem steht, er sei Moslem, auch wenn das nicht stimmt.

Das zieht sich dann durch alle Dokumente. Ein solcher Fehler – aus böser Absicht oder Nachlässigkeit – kann sehr schwerwiegende Konsequenzen haben. Wenn die Person irgendwann einmal angibt, sie sei Christ, kann das als Apostasie ausgelegt werden, als Abfall vom islamischen Glauben, und darauf steht die Todesstrafe. Der Mensch hat keine Möglichkeit, seine religiöse Identität wieder herzustellen. Aus diesen Gründen ist es unmöglich, staatlichen Statistiken zu glauben.

 

Was denken Sie, wie viele Kopten leben heute in Ägypten?

Ich schätze 13 Prozent. Das sind etwa neun Millionen Menschen.

 

Und in Deutschland?

Ich denke, etwa 3000 Personen. Man schätzt die Anzahl der Kopten in der Diaspora auf zwei Millionen,allein die Hälfte davon in den USA.

 

Die Kopten haben eine eigene Sprache, das Altägyptische, mit einer eigenen Schrift, doch heute sprechen alle Gläubigen arabisch. Stirbt die koptische Sprache aus?

Sie ist schon gestorben. Das ist wie Latein. Es wird nirgendwo mehr zu Hause gesprochen. Die Verdrängung begann im 15. Jahrhundert. Es gab Zeiten, da haben die arabischen Herrscher den Leuten die Zunge abgeschnitten, wenn sie koptisch gesprochen haben. Das Volk wurde also gezwungen, arabisch zu sprechen, so ging die Verdrängung des Koptischen sehr schnell. Geblieben ist die Sprache allein in der Liturgie.

 

Laut Verfassung sind Christen und Muslime gleichberechtigt…

Die Verfassung schreibt vor, dass die Hauptquelle für die Rechtsprechung in Ägypten die islamische Scharia ist. Egal, welche Gesetze es sonst noch gibt, entscheidet der Richter nach seinem Ermessen, der Scharia entsprechend – auch über Christen.

 

Das islamische Recht verstößt in vielem gegen die Menschenrechte…

Ja. Natürlich hat Ägypten den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zugestimmt. Das soll modern und fortschrittlich wirken. Aber das bedeutet nicht, dass sie sich an das halten, was sie unterschrieben haben. Es gibt so viele Dinge, die gegen die Menschenrechte verstoßen. Dass eine Tochter nur halb so viel erbt wie ihr Bruder, dass der Mann seine Frau schlagen darf, um sie zu züchtigen,… die Diskriminierung der Frau steht im Gesetz.

 

Und die Diskriminierung der christlichen Minderheit?

Die größte Diskriminierung ist natürlich, dass ein Moslem sich nicht entscheiden darf, Christ zu werden. Für den Abfall vom Glauben verdient er nach der Scharia die Todesstrafe. Die ist zwar in Ägypten dafür nicht vorgesehen, aber diejenigen, die sie vollstrecken, werden nicht vom Staat verfolgt.
Ich kenne einen Fall, da wurde ein Christ Moslem und kehrte dann zurück zum Christentum. Er stellte einen Antrag, seinen alten Namen wiederzubekommen – er hatte bei der Konversion den Namen Mohammed angenommen – und er wollte eine Geburtsurkunde für seinen Sohn ausstellen lassen. Das oberste Gericht Ägyptens hat entschieden, dass nach der Scharia dieser Herr für tot erklärt wird, weil er den Tod verdient. Und ein Toter darf keine Namensänderung beantragen und kann auch keinen Sohn zeugen – der Mann und sein Kind waren offiziell nicht mehr existent. Das heißt, er war vogelfrei, jeder Fanatiker hätte ihn straffrei töten können. Mit diesem Urteil bekam er in Deutschland Asyl.

 

Abgesehen von dem Problem der Konversion – erfahren die Kopten im Alltag Benachteiligungen?

Nehmen Sie Kirchen und Moscheen: Moscheen werden vom Staat gebaut, die Gehälter der Imame zahlt der Staat – mit Steuergeldern, die auch von Christen kommen. Für Kirchen bezahlt der Staat nichts. Im Gegenteil: Es wird selten die Erlaubnis zum Bau oder zur Reparatur einer Kirche gegeben. Mein Vetter, ein Priester in Oberägypten hat einmal eine Toilettentür in seiner Kirche repariert. Da hat man ihn vier Tage ins Gefängnis gesteckt.

 

Mit welcher Begründung?

Es gibt ein Gesetz, dass Bau und Reparatur von Kirchen vom Staatspräsidenten genehmigt werden müssen. Dagegen haben die Kopten über 100 Jahre lang gekämpft Jetzt wurde das Gesetz gelockert: Es muss nicht mehr der Präsident, sondern nur noch der Provinzgouverneur zustimmen. Doch es zeigt sich, dass dies in Wahrheit eine Verschlechterung bedeutet: Die Gouverneure sind viel fanatischer und haben zudem keinen internationalen Ruf zu verlieren, wenn sie Genehmigungen verweigern. Im Ergebnis bauen manche Kopten heimlich Kirchen, bis sie wegen Bauens ohne Baugenehmigung gestoppt werden.

 

Und der Religionsunterricht?

Der Religionsunterricht der Muslime wird vom Staat bezahlt, der koptische nicht. Ich durfte als Lehrer christliche Religion unterrichten, bekam dafür aber kein Geld. Und das war schon ein großes Entgegenkommen des Schuldirektors, dass ich in der Schule unterrichten durfte. Später zog er die Erlaubnis zurück – das ist ganz willkürlich.

 

Müssen christliche Kinder am Islamunterricht teilnehmen?

Nein, aber das Problem ist, dass Religion in den Arabischunterricht hineinverlegt wird, oft werden Koransuren als Texte genommen. Und da haben die christlichen Schüler nicht die Möglichkeit, fernzubleiben. Es gibt also eine verschleierte Islamisierung. Das ist so, als wenn türkische Kinder hier statt Goethe-Gedichten Bibelstellen auswendig lernen müssten.

 

Müssen die Schülerinnen Kopftücher tragen?

Der Staat schreibt es nicht vor, aber manche Schulleiter bestimmen einfach, dass alle Frauen und Mädchen in der Schule Kopftücher tragen müssen. Die Diskriminierung geht also nicht nur von offizieller Seite aus, sondern auch von der islamischen Bevölkerung. Zum Beispiel haben die Kopten ihre Kinder an Weihnachten, also am 7. Januar, und an Ostern nicht zum Unterricht geschickt. Aber die Schulen haben an diesen Tagen extra Prüfungen eingeführt, um die Kinder zum Kommen zu zwingen. Ich glaube, das wurde letztes Jahr verboten, ob es eingehalten wird ist aber eine andere Frage.

 

Werden die christlichen Schüler bei der Benotung benachteiligt?

Bei den Prüfungen in Schule und Universität schreibt man nicht seinen Namen sondern eine Geheimnummer auf die Arbeit. Die muslimischen Schüler schreiben nun ganz oben drüber ?Im Namen Allahs des Barmherzigen“. Ein christlicher Schüler würde das nie tun. Also ist für den Korrektor klar: Wer das nicht schreibt, ist Christ… Das sind Schikanen, die nicht vom Staat ausgehen, aber der Staat könnte verbieten, dass Kinder Bekenntnisformeln auf ihre Examensarbeiten schreiben.

 

Haben Kopten besondere Probleme auf dem Arbeitsmarkt?

Bei schlecht bezahlten Berufen gibt es keine Einschränkungen. Aber in höheren Ämtern können Sie Kopten lange suchen. Kein einziger Gouverneur im Land ist Christ, ähnlich sieht es aus bei Staatssekretären, Universitätsrektoren, Schulleitern, Richtern,… Der Staat ist der erste Arbeitgeber, in Ägypten sind etwa ein Drittel der Erwerbspersonen Beamte.

 

Und in der Privatwirtschaft?

Viele muslimische Unternehmer – obwohl sie Christen nicht gerne beschäftigen – nehmen einen Kopten als Verantwortlichen für die Finanzen ihrer Firma. Kopten sind bekannt dafür, nicht korrupt zu sein und nicht zu betrügen. Das klingt jetzt etwas anmaßend, wenn ich das sage, aber meine Theorie ist, dass das einerseits religiöse Gründe hat: In unserer Kirche ist die Beichte sehr wichtig, und niemand tritt gerne mit einer Sünde vor seinen Herrn. Andererseits haben sicher viele Angst vor den Konsequenzen , wenn ein Kopte fällt, fällt er tief. Er hat nicht die gleichen Einflussmöglichkeiten wie ein Moslem.

 

Sie waren Lehrer – warum sind Christen in dem Beruf geduldet?

Inzwischen hat sich das geändert. Die Islamisierungswelle ist ja noch relativ jung. Vor der Revolution von Nasser 1952 gab es eine relative Freiheit. Danach begann die Benachteiligung der Christen von Staats wegen. Ab den 70er Jahren verstärkte sich der islamistische Einfluss in der Bevölkerung.

Seitdem kommt es immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Kopten und Islamisten…
So steht es hier in den Zeitungen, ja. Aber wenn ein Großer einen Kleinen zusammenschlägt, wenn ein Elefant eine Maus zertritt – das ist kein Zusammenstoß, das ist eine Aggression.

 

Was steht hinter der Gewalt?

Es steht vieles dahinter. Ein ideologischer Grund ist, dass es für die islamistische Jugend kein friedliches Zusammenleben geben kann, die ‚Ungläubigen‘ müssen getötet werden. Außerdem will die Opposition, die da im Untergrund agiert das Ansehen des Staates schädigen. Bei Anschlägen auf Touristen verbinden sich die beiden Ziele, Ungläubige zu töten und die Regierung zu schwächen. Der Unterschied ist: Nach Angriffen auf Touristen versucht der Staat alles, um das Ansehen wieder herzustellen. Im Falle der Kopten hat der Staat kein Interesse, das zu verfolgen, er duldet diese Angriffe. Die Islamisten infiltrieren überall. Sie finden heute kaum einen Polizisten, der nicht mit ihnen sympathisiert.

 

Viele Kopten haben Ägypten verlassen, viele leben in Angst – hat das ägyptische Christentum in seinem Ursprungsland eine Zukunft?

Ich denke ja. Wenn man die Sache historisch betrachtet, haben die Kopten seit dem 7. Jahrhundert Verfolgungswellen erlitten und überlebt. Es gab aus dieser Sicht schon schlimmere Zeiten. Allerdings muss man die heutigen Ansprüche an den Maßstäben der zivilisierten Welt mit den Menschenrechten messen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat und nicht am Mittelalter.

Neu ist eine starke Diaspora, gut 20 Prozent der Kopten leben im Ausland. Sie können laut sagen, dass ihre Glaubensbrüder in Ägypten benachteiligt werden. Das ist in Ägypten selbst unmöglich. Als eine Kommission des Amerikanischen Kongresses nach Ägypten kam, um zu überprüfen, ob die Kopten dort verfolgt werden, gingen sie zu Papst Shenouda und haben ihn gefragt. Er hat nein gesagt! Er kann ja gar nichts anderes sagen, er würde sofort ins Gefängnis kommen. Nirgendwo in Ägypten werden Sie offiziell hören, dass die Kopten benachteiligt werden, aber das ist kein Beweis.

 


(Credit Vorschaubild: Sherif9282, Wikipedia Commons CC BY 3.0./ Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Copts_praying_in_Tahrir.jpg)

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