Alles Gute zum Unabhängigkeitstag, USA!

Russland griff Kyiv die ganze Nacht über mit Drohnen, ballistischen Raketen, aerobalistischen „Kinschals“ und Marschflugkörpern des Typs „Iskander“ an. Der massive Angriff auf die Hauptstadt begann noch bei Tageslicht gegen 20 Uhr und dauerte fast bis 5 Uhr morgens. In der Nacht wechselten sich mehrfach Angriffe mit Schaheds mit Einschlägen ballistischer Raketen, Kinschals und Marschflugkörper ab. Beißender Rauch lag über dem Zentrum von Kyiv. Foto: Deep State
Ein Kommentar:
An diesem Tag zeigen Ihre Filme oft fiktive Kriege mit erfundenen außerirdischen Invasoren.
Doch die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen in der Realität – um ihre und unsere Unabhängigkeit – gegen einen sehr realen imperialistischen Aggressor: Russland.
Wir wünschen Ihnen Freiheit! Freiheit von Illusionen. Und wir hoffen, dass Sie beginnen, die Welt nicht durch Fiktion, sondern durch die Linse der Realität zu sehen.
4. Juli – Unabhängigkeitstag in den Vereinigten Staaten.

4th of July Independence Day Parade 2014 Washington D. C. Foto: Wikimedia
Diese Botschaft richtet sich nicht an eine bestimmte US-amerikanische Person, aber ihre Bedeutung ist eindeutig: Die Welt kann sich eine US-amerikanische Entfremdung von der Realität nicht länger leisten.
Während die Vereinigten Staaten ihren Unabhängigkeitstag mit Feuerwerk und Paraden feiern, erwachte Kyiv mit Explosionen. In den frühen Morgenstunden des 4. Juli feuerte Russland 550 Raketen und Drohnen auf ukrainische Städte ab. Allein in Kyiv wurden 23 Menschen verletzt, mehrere Wohngebäude in Brand gesetzt, und das polnische Konsulat wurde getroffen. Die ukrainische Luftwaffe konnte 478 Ziele abfangen, doch der physische und psychologische Schaden war längst angerichtet.
Und doch zeichnet sich mitten in dieser Welle der Gewalt eine unbequeme Wahrheit ab: Die Vereinigten Staaten von Amerika ziehen sich zurück.
Eine Pause mit schwerwiegenden Folgen
Wie die New York Times diese Woche berichtete, haben die USA ihre Waffenlieferungen an die Ukraine unterbrochen – darunter auch wichtige Luftabwehrraketen wie die PAC-3 für das Patriot-System. Für ein Land, das täglich unter Beschuss steht, ist diese Pause kein bürokratisches Detail, sondern eine katastrophale Schwächung der Verteidigung.
Präsident Donald Trump, inzwischen wieder im Amt, bestätigte heute, dass er kürzlich mit Wladimir Putin gesprochen habe. „Wir haben über viele Dinge gesprochen“, sagte er. „Ich bin nicht zufrieden.“ Auf die Frage nach der Aussetzung der Waffenlieferungen antwortete er ausweichend, aber eindeutig:
„Wir helfen ihnen. Aber wir müssen sicherstellen, dass wir selbst genug Waffen haben.“
Diese Aussage, gemacht am 4. Juli, wirft einen langen Schatten auf die globale Rolle der USA. Was bleibt von der moralischen Klarheit von „Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück“, wenn die Vereinigten Staaten einer unter Belagerung stehenden Demokratie lebenswichtige Unterstützung verweigern?
Stille Zugeständnisse, laute Folgen
Weniger öffentlich, aber möglicherweise noch folgenreicher: Das US-Finanzministerium hat eine neue Lizenz ausgestellt, die bestimmte Finanztransaktionen mit einigen der mächtigsten russischen Banken erlaubt – darunter Sberbank, Gazprombank, Alfa-Bank und sogar die russische Zentralbank. Zwar ist die Lizenz auf „zivile Nuklearenergie“ beschränkt, doch faktisch stellt sie eine Lockerung der Sanktionen gegenüber jenen Institutionen dar, die das Rückgrat der russischen Kriegswirtschaft bilden.
Wie lassen sich solche Entscheidungen mit der Fülle an dokumentierten Kriegsverbrechen in der Ukraine vereinbaren? Mit der Verschleppung von Kindern, Folterzentren und der gezielten Bombardierung von Wohnhäusern?
Wenn dies Teil eines neuen „Realismus“ in der US-Außenpolitik ist, muss gefragt werden: Realismus für wen? Und zu welchem Preis?
Diplomatie oder Selbsttäuschung?
Die Biden-Regierung hatte den Kampf um die Ukraine einst als entscheidendes Ringen zwischen Demokratie und Autoritarismus bezeichnet. Trumps Ansatz ist ein anderer – transaktional, nicht wertebasiert. Er hat Waffenstillstände ins Spiel gebracht, Gebietsabtretungen angedeutet und betont, „den Krieg zu beenden“. Doch keine dieser Vorschläge stellt die ukrainische Stimme oder Souveränität ins Zentrum.
Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte heute, er hoffe in den kommenden Tagen mit Trump sprechen zu können:
„Wir zählen auf die weitere Unterstützung der USA – insbesondere bei Dingen, die Europa nicht liefern kann.“
Dazu gehört die PAC-3-Abwehrrakete – eines der wenigen Systeme, das den verstärkten russischen Luftangriffen effektiv entgegentreten kann. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das Leben ukrainischer Zivilisten nun davon abhängt, ob die USA diese Lieferungen wieder aufnehmen.
Der polnische Außenminister Radosław Sikorski formulierte es nach den nächtlichen Angriffen deutlich:
„Präsident Trump, Putin verspottet Ihre Friedensbemühungen. Bitte nehmen Sie die Lieferung von Flugabwehrmunition an die Ukraine wieder auf und verhängen Sie harte neue Sanktionen gegen den Aggressor.“
Ein Krieg, der nicht wartet
Der Krieg in der Ukraine pausiert nicht. Die russischen Angriffe werden immer brutaler. Und während in den USA Waffenhilfe als parteipolitisches Thema diskutiert wird, haben Ukrainer nicht den Luxus, auf einen Wahlausgang zu warten.
Neutralität in diesem Moment bedeutet nicht Frieden – sie bedeutet Straflosigkeit.
Die zentrale Frage ist nicht mehr, ob die USA die Ukraine unterstützen, sondern ob sie noch an die Werte glauben, die sie am 4. Juli feiern: Unabhängigkeit. Freiheit. Widerstand gegen Tyrannei.
Der Krieg in der Ukraine ist keine Metapher. Er ist kein Film. Und doch verhalten sich die Vereinigten Staaten – die mächtigste Demokratie der Welt – zunehmend so, als sei er Fiktion. Als ließe sich diese Geschichte zu einem späteren, bequemeren Zeitpunkt umschreiben.
Aber der Preis des Wartens wird in Menschenleben bezahlt.
Von Unabhängigkeit zur gegenseitigen Verantwortung
Am 4. Juli 1776 erklärten dreizehn Kolonien, dass alle Menschen gleich geschaffen seien und dass Regierungen ihre Legitimität aus dem Willen der Regierten ableiten. Diese Erklärung wurde – zumindest in ihren besten Momenten – zum moralischen Kompass der US-Außenpolitik.
Doch Prinzipien ohne Taten sind Poesie. Und Poesie stoppt keine Raketen.
Die Wahrheit ist: Die Ukraine braucht keine großen Reden. Sie braucht Luftabwehrsysteme. Sie braucht wirtschaftlichen Druck auf den Aggressor – keine Entlastung. Und sie braucht ein Amerika, das die Welt nicht durch die Brille des Wunschdenkens, sondern mit der Klarheit der Realität betrachtet.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet und lange von den USA mitgetragen, beginnt mit einem einfachen Grundsatz:
„Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und persönliche Sicherheit.“ (Artikel 3)
Heute wird Millionen von Ukrainern dieses Recht verwehrt – nicht theoretisch, sondern auf grausame, sichtbare Weise. Und dennoch zögert die internationale Gemeinschaft – unter US amerikanischer Führung.
An diesem Unabhängigkeitstag ist es vielleicht an der Zeit, dass sich die US-Administration fragt:
Sind wir noch bereit, die Freiheit zu verteidigen, die wir feiern? Oder sind wir zu abhängig von Fiktionen geworden, um den Realitäten der Welt zu begegnen?
Über den Autor: der 27 Jahre alte Artem stammt aus der Ukraine und absolviert zur Zeit ein Praktikum bei der IGFM