
Verfolgung von Christen in Pakistan
Christen in Pakistan leben unter ständiger Bedrohung durch Blasphemie-Anschuldigungen, ein einziger Blasphemie-Vorwurf kann das gesamte Leben einer Familie zerstören. Michaela Koller, Referentin für Religionsfreiheit der IGFM, im Interview mit Anneqa Anthony, Anwältin für Menschenrechtsfälle in Lahore von der Organisation „The Voice Society“ zu der aktuellen Lage von Christen in Pakistan.
„Wer einmal wegen Gotteslästerung angeklagt wird, bleibt lebenslang angeklagt“
Frankfurt am Main, der 25.03.2025
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Interview mit Anneqa Anthony (The Voice Society, Lahore/Pakistan) und Michaela Koller (IGFM)
Zur Aufzeichnung des Interviews:
MICHAELA KOLLER: Ich spreche mit Aneeqa Anthony, Anwältin für Menschenrechtsfälle in Lahore von der Organisation „The Voice Society“. Regelmäßig erfahren wir neue Namen von Christen, die wegen Blasphemie, sogenannter Blasphemie, inhaftiert sind. Und wir haben den Eindruck, dass die Inhaftierungen von Jahr zu Jahr zunehmen. Stimmt das oder ist das nur unser Gefühl?
ANEEQA ANTHONY: Nein, das stimmt, denn die Blasphemiefälle und -vorfälle nehmen täglich zu, und auch Fundamentalismus und Radikalismus nehmen zu. Und mit der neuen Gruppe TLP*, der Blasphemiegruppe, wird die Lage schwieriger, da sie auf außergerichtliche Hinrichtungen und die Bestrafung der Gotteslästerer selbst spezialisiert ist.
Ja, es nimmt täglich zu, und die Zahl religiöser Extremisten steigt.
MICHAELA KOLLER: Du hast das allgemeine gesellschaftliche Klima beschrieben. Kannst Du näher erläutern, inwieweit es sich verändert hat und was die Auslöser und möglichen Ursachen dafür sein könnten?
ANEEQA ANTHONY: Mögliche Ursachen sind der zunehmende religiöse Extremismus und die zunehmende Popularität der TLP, die ihre Popularität ihren religiösen Werten verdankt, dem „Tod für Gotteslästerer“ und so weiter. Blasphemiegesetze wurden in Pakistan schon immer als Instrument eingesetzt, um Strafen zu verhängen oder Rechnungen zu begleichen. Es gibt nur sehr wenige Fälle, die tatsächlich auf Blasphemie zurückzuführen sind, aber …
Meistens handelt es sich bei den Fällen um falsche Anschuldigungen. Wer einmal wegen Gotteslästerung angeklagt wird, bleibt lebenslang angeklagt. Dann wird sich das Leben völlig ändern: Man hat kein Land, keinen Besitz, keine Familie mehr. Für einen Gotteslästerer ist alles zerstört. Ein Gotteslästerer bleibt ein Gotteslästerer, und selbst wenn man freigesprochen wird, wird man trotzdem getötet.
Blasphemie ist also ein ernstes Problem, und mit der Zeit hat man erkannt, dass sie sehr effektiv ist, um die Rechnungen zu begleichen. Man muss nur etwas sagen und den Leuten erzählen, dass man jemanden gesehen oder gehört hat, der etwas gesagt oder getan hat, und das war’s. Der andere ist erledigt. Nicht nur der andere, sondern die ganze Familie ist erledigt. Man kann sein Haus, seine Familie, seine Töchter usw. nehmen. Man kann ihn auf der Stelle töten, wenn man auf jemanden eifersüchtig ist.
Genau das geschah in Sargodha. Ein 80-Jähriger wurde aus Neid ermordet. Er war wohlhabend und besaß eine Fabrik. Die Leute konnten nicht anerkennen, dass ein Christ so viel verdiente und ein gutes Leben führte. Deshalb beschuldigten sie ihn der Gotteslästerung und töteten ihn auf der Stelle.
Der Hauptgrund für die Zunahme dieser Vorfälle ist das Ergebnis: Das Ergebnis ist verlockend, es geht sehr schnell und man muss keine weiteren Fälle verfolgen oder sonst etwas tun, man muss nur jemandem sagen, dass man jemanden gesehen hat, der etwas gegen den heiligen Propheten oder gegen die Religion getan hat.
Tag für Tag werden diese Regeln und Gesetze aufgrund des Drucks der TLP und anderer religiöser Organisationen verschärft. Die TLP steht für Tehreek-e-Labbaik Pakistan, die drittgrößte politische Partei im Punjab, die in ganz Pakistan immer beliebter wird.
Ihre Anhänger sind alle junge Menschen aus den Madrasas (Koranschulen), die viel über Fundamentalismus und Extremismus erfahren haben und ihre eigenen Werte und ihr eigenes Verständnis vom Islam haben.
Auf diese Weise werden die Dinge immer schwieriger.
MICHAELA KOLLER: Wenn ich das richtig verstehe, wagen es Christen nicht einmal, Muslime zu kritisieren oder über Religion zu diskutieren?
ANEEQA ANTHONY: Nun, Michelle, das ist nicht einmal im Entferntesten möglich.
Weil ich selbst – ich gebe Dir mein Beispiel – in meinem Zuhause meinen Kindern sage, wenn sie in ihrer Schule einen Konflikt mit den muslimischen Mitschülern haben oder irgendetwas anderes, weißt Du, Kinder haben Probleme und…
Mein Sohn ist 13 Jahre alt, Teenager, Jungs, sie haben ihr eigenes Leben und ihre eigenen Wege, und deshalb sagen wir ihnen immer, dass sie den Muslimen nichts sagen dürfen.
Und man kann ihre Fragen nicht beantworten. Man muss nicht über Religion oder religiöse Werte diskutieren und man muss nicht einmal seinen Freunden sagen, was unser Glaube ist. Die Leute haben so große Angst, dass sie nicht einmal öffentlich oder mit anderen über ihren Glauben sprechen können, weil das manchmal zu Blasphemie führt. Wenn jemand wütend wird oder wenn jemand Deinen Glauben oder Deine Aussagen nicht mag, können sie Dich trotzdem der Blasphemie beschuldigen. Ich selbst bin gut aufgestellt, ich bin Anwältin und kenne die Gesetze. Ich arbeite für Menschen, schütze sie und helfe ihnen. Wenn jemand wie ich zögert, mit Muslimen und anderen Menschen über meinen Glauben zu sprechen, dann…
Denk mal an die normalen Leute, wie sie leben und was sie tun. Sie trauen sich nicht einmal, es anderen zu sagen, dass sie Christen sind, weißt Du.
MICHAELA KOLLER: Ich verstehe, und Du wurdest selbst oft mit Mord bedroht, während Du für Klienten gearbeitet hast. Wie gehst Du damit um?
ANEEQA ANTHONY: Es gibt keine feste Regel oder Methode, damit umzugehen. Du musst einfach den Mund halten, wenn Dich jemand bedroht oder sogar beschimpft, beleidigende Sprache verwendet oder Dich im Gerichtssaal anschreit, und selbst die Richter benehmen sich vor Gericht nicht sehr gut, das weißt Du.
Letztes Mal, im Fall Sunny Waqas, bedrohte mich der Richter vor Gericht, vor dem Obersten Gerichtshof, und sagte, ich könne bei lebendigem Leib verbrannt werden, wenn ich diese Fälle weiterverfolge.
Du musst also einfach still sein und so tun, als ob Du nichts hörst oder nichts gehört hättest.
Im Fall Sargodha, in Zamrans Fall, wurden wir bedroht, mein Team wurde bedroht, ich wurde bedroht, und unser Auto wurde von den Leuten verfolgt, die, weißt Du, Waffen in der Hand hielten und mit ihren Waffen auf uns zielten, neben unserem Auto herfuhren und versuchten, die Fenster einzuschlagen. Sie benutzten vulgäre Ausdrücke und beschimpften uns und verfluchten mich, dass ich verdammt und bald erledigt sein würde, wenn ich den Gotteslästerern weiterhin helfe, weil ich selbst eine Gotteslästerin sei.
Also, ja, ich kann mit so jemandem nicht umgehen, wenn ich ständig rede und ihnen ständig antworte. Also halte ich einfach den Mund und mache meine eigene Arbeit, egal, was sie sagen.
MICHAELA KOLLER: Ich verstehe.
ANEEQA ANTHONY: Manchmal erstatte ich Anzeige bei der Polizei, manchmal erstatte ich Anzeige gegen jemanden, aber unsere Regierung schützt uns nicht.
Und alles, was sie sagen, ist, dass man einen Sicherheitsmann bei sich haben sollte, und ich habe wirklich Angst vor den Sicherheitsleuten, weil sie die meiste Zeit Menschen töten.
MICHAELA KOLLER: Du hast bereits den Namen eines der Opfer dieser Gesetze erwähnt. Kannst Du das Schicksal eines der Blasphemieverdächtigen beschreiben und was nötig ist, um diesen Fall zu bearbeiten, und wie wir Dich dabei unterstützen können?
ANEEQA ANTHONY: Es kostet alles, ein Blasphemieopfer zu unterstützen. Man muss die Konsequenzen tragen, Mut zusammennehmen, sein Team ermutigen und andere ermutigen, einen zu unterstützen. Besonders in Blasphemiefällen haben die Leute, die mit mir arbeiten, Familien, Kinder und so weiter. Es ist also ziemlich schwierig, und mit der Zeit zögern die Leute immer mehr, in solchen Fällen aufzutreten und den Blasphemieopfern zu helfen, weil die Menschen, die den Blasphemieopfern helfen, nun selbst in derselben Gefahr sind.
In unseren Fällen danke ich normalerweise Gott, denn bisher haben wir in Blasphemiefällen eine Erfolgsquote von 100 Prozent und keines unserer Opfer, keiner unserer Klienten ist bisher im Gefängnis.
Also, ja, es erfordert alles. Es erfordert Dein ganzes Leben, es erfordert Deine gesamten Anstrengungen, es erfordert Dein ganzes Familienleben, es erfordert alles von Dir, einem Opfer von Blasphemie zu helfen, denn wenn Du erst einmal in einen Fall verwickelt bist, dann erfordert es alles von Dir, jemandem zu helfen.

Haroon Masih with his family and The Voice Society (TVS) Team
MICHAELA KOLLER: Und als letzte Frage: Kannst Du uns von einem Deiner jüngsten Fälle erzählen?
ANEEQA ANTHONY: Ja, der letzte Fall, den wir bearbeitet haben, war Zamrans Fall, in dem ihm Kaution gewährt wurde. Davor war es Haroons Fall. Er ist noch anhängig, und sein Prozess läuft noch. Da Haroon das Land nicht verlassen hat, verfolgen wir ihn vor Gericht, und sein Prozess läuft noch. Abgesehen von vielen Fallgruben in seinem Verfahren steht er noch vor Gericht, und sein Fall ist völlig offen. Aber er leidet und seine Familie leidet. Sie können nicht an ihren Ort zurückkehren, sie leben nicht in ihrem Haus. Und nicht nur Haroons unmittelbare Familie, sondern auch alle seine Brüder leiden. Seine gesamte erweiterte Familie leidet ebenfalls, weil sie aus ihrem Dorf vertrieben wurden, nicht arbeiten können und nicht dasselbe Leben am selben Ort führen können.
Und wir hatten Zamrans Fall. Zamran war ein Absolvent und lebte ebenfalls in einem Dorf bei Sargodha. Er war jedoch in drei Blasphemieverfahren in verschiedenen Dörfern verwickelt, nach verschiedenen FIRs (FIR steht für First Information Report – also Anzeige). Es gab also drei Blasphemieverfahren gegen ihn, und wir halfen ihm, aus dem Gefängnis zu kommen. Wir brauchten ein Jahr, für ihn zu kämpfen, und alle seine Kautionen wurden vom Obersten Gerichtshof gewährt, da die unteren Gerichte nicht einmal bereit waren, ihm zuzuhören. Also verließ er gleich nach seiner Freilassung gegen Kaution das Land.
Und jetzt lebt er mit seiner Familie woanders, weil es ihm als Opfer von Gotteslästerung und auch als Opfer des Blasphemie-Paragraphen 295 C unmöglich war, dort zu leben. Und wenn es nur eine Anzeige gibt, ist das Leben vorbei, und gegen ihn gab es drei Anzeigen. Man kann sich also vorstellen, in welcher Gefahr er und seine Familie schwebten. Also ja, er verließ das Land, und Gott sei Dank war es dank der Unterstützung vieler Menschen möglich, ihn am Leben zu halten, und jetzt ist er in Sicherheit.
MICHAELA KOLLER: Ja, vielen Dank für die Einblicke, und ich kann Dir unsere Unterstützung, die Hilfe unserer IGFM und ihrer Freunde, zusichern. Vielen Dank für Dein Engagement, Aneeqa Anthony aus Lahore.
*Abkürzung für Tehreek-e-Labbaik – extremistisch-dschihadistische Bewegung und Partei in Pakistan

Zamran Asim reunited with his family after his release