„Man darf das Leben der Kinder nicht riskieren. Sie sind das Wertvollste!“

Interview vom  12.11.2024

Irina Skatschko

Während des Beschusses deckte das Mädchen ihren jüngeren Bruder mit ihrem eigenen Körper und erlitt dabei schwere Verletzungen. Ihre Mutter, eine ehemalige Erzieherin im Kindergarten von Bachmut, erzählt die Geschichte ihrer Familie. Elvira bedauert immer noch, dass sie nicht rechtzeitig aus Bachmut geflüchtet ist.

…Von dem Haus, in dem Elvira früher mit ihren Kindern und ihrem Vater lebte, ist nichts mehr übrig. Ebenso wenig wie von dem Kindergarten, in dem sie früher als Erzieherin arbeitete. „Schau mal!“ – zeigt Elvira auf ihrem Handy ein Foto von den Ruinen, die noch vor kurzem bewohnte Häuser waren.Ihre Heimatstadt Bachmut wurde fast vollständig zerstört.

Elvira bedauert immer noch, dass sie nicht rechtzeitig aus Bachmut geflüchtet ist

Jetzt lebt die Familie in Sumy. Doch auch hier ist es in letzter Zeit unruhig. Wir treffen uns mit Elvira am nächsten Morgen nach einer weiteren „lauten“ Nacht in der Lobby des Krankenhauses, in dem ihre Tochter früher behandelt wurde. Jetzt arbeitet die ehemalige Erzieherin hier als Lageristin. Im Hintergrund ertönt wieder ein Luftalarm.

„Der 24. Februar 2022 war in Bachmut der Horror, schlimmer als 2014… Es grollte den ganzen März, weit entfernt… Dann wurde es bis Mai ruhig“, erzählt Elvira. „Wir sind nicht sofort geflüchtet, weil mein Vater, der mobilitätsbeschränkt ist, bei uns war: drei Schlaganfälle, jetzt kann er gar nicht mehr gehen. Niemand dachte, dass es so kommen würde! Und dann begann es: eine Rakete, zwei… GRAD-Raketenwerfer. Es war furchtbar… ‚Vater,‘ sagte ich, ‚wir müssen fahren!‘ – ‚Ich gehe nirgendwo hin.‘ Also habe ich riskiert…“

Der zerstörte Bachmut. Foto: Depositphotos, Bachmut

Elviras ältere Tochter Darja war im ersten Jahr des groß angelegten Angriffs sechzehn Jahre alt, Dmitri war zehn. Beide wurden am 12. August 2022 verletzt. „Es war ein trüber Tag, es grollte… Alle 10-15 Minuten ein Knall… Wir hatten drei Tage lang keinen Strom… Wir wohnen in einer Wohnung, und in der Nähe gibt es ein privates Wohnviertel. Die hatten Strom. Da lebte die Familie von Darjas Freundin. Die Kinder gingen hin, um ihre Handys und Powerbanks aufzuladen. Ich hatte sie gebeten, nicht zu gehen, aber sie sagten: ‚Mami, wir sind schnell zurück!‘ Ich war gerade bei meinem Vater. Dann begann der Beschuss… Schrecklich… Ich deckte meinen Vater ab, entfernte mich weiter von den Fenstern. Und dann hörte ich einen Schrei im Treppenhaus. Dima kam, ganz blutig, voller Staub, weinend: “‘Darja ist draußen?!‘“

Elvira rannte los, um ihre Tochter zu suchen

„Ich sah sie bei einem anderen Treppenhaus, Nachbarn halfen ihr, sie stützten sie. Ich verstand nicht sofort, was mit ihr war. Dima hatte gesagt, es sei der Rücken. Aber wie sich herausstellte, hatte sie auch eine schwere Beinverletzung.“ Der Beschuss ereignete sich, als die Kinder fast zu Hause angekommen waren. Darja schützte ihren Bruder mit ihrem Körper und rettete ihm so das Leben. Dmitri erlitt eine Schrapnellverletzung, seine Schwester wurde schwerer verletzt.

„Durchschussverletzung am linken Bein, Knöchel, Verletzung der Lendenwirbelsäule“, zählt ihre Mutter auf. „Ich schnappte mir, was ich konnte, nahm die Tasche mit den Dokumenten und fuhr, um die Kinder zu retten. Soldaten halfen uns, weiterzukommen, denn wir hätten auf keinen Rettungswagen warten können, Darja verblutete. Wir erreichten die Notaufnahme in Bachmut. Dort halfen uns die Soldaten und schickten uns mit den Jungs nach Kostiantyniwka, wo eine Operation gemacht wurde, und dann fuhren wir nach Dnipro. Alle haben uns sehr geholfen, ich bin den Ärzten in Kostiantyniwka und Dnipro sehr dankbar…“ Die Familie verließ Bachmut ohne Hab und Gut, buchstäblich in Hausschuhen. Die Kinder waren ganz blutig (die Soldaten gaben ihnen saubere T-Shirts). In Bachmut blieben auch ihre Wertsachen zurück…

„In unserem Haus wohnte noch eine andere Familie, wir hielten zusammen. Und als das Unglück passierte, halfen sie mir, meine Tochter auf einer Matratze zu tragen. Zuerst nahm ich alles Geld, das ich hatte, und eine Tasche mit Dokumenten. Als wir in der Notaufnahme in Bachmut waren, hatte ich Angst um meinen Vater, der zu Hause geblieben war. Ich gab den größten Teil des Geldes den Nachbarn. Und dann schrieb mir nach einer Weile eine Bekannte: ‚Mein Sohn, der Soldat ist, hat mir Geld auf meine Karte überwiesen, aber ich kann es nicht abheben.‘ Ich sagte ihr: ‚Lass mich den Nachbarn fragen, ob er dir das Geld gibt, und du überweist mir das dann auf die Karte.‘ Ich rief den Nachbarn an, aber er sagte: ‚Nein.‘ So war das… Und Darjas Lehrerin, eine goldene wunderbare Person, als sie von unserem Unglück erfuhr, bat um die Kontonummer. Sie sagte: ‚Wir lassen unsere Leute nicht im Stich!‘ Das Geld wurde auf die Karte überwiesen von Freunden, Bekannten, Lehrern, Kollegen… Unsere Mitmenschen ließen uns nicht im Stich…“

Später reiste die Familie nach Sumy zu Verwandten. Die Behandlung durfte nicht unterbrochen werden. „Ich musste die Beinbehandlung meiner Tochter fortsetzen. Neun Monate hatten wir den Fixateur… Krücken, Rollstuhl… Uns wurde in der Kinderklinik von Sumy sehr geholfen. Unsere Ärztin, Olena Viktorivna Kostjukowa… Und der Direktor, der stellvertretende Direktor… Ich danke allen! Mir wurde hier eine Stelle angeboten, zuerst arbeitete ich in der Küche, dann gab es eine Stelle als Lageristin. Meine Tochter läuft jetzt wieder, auch wenn sie hinkt. Es ist gut, dass wir das Bein gerettet haben. Sie hat jetzt eine Behinderung.“

Jetzt nutzt Elviras Vater mehr den Rollstuhl. Im Herbst 2022 halfen ihm Freiwillige, ihn aus Bachmut nach Sumy zu bringen. Darja hat sich trotz allem in diesem Jahr für das medizinische Kolleg beworben. Leider wird der Unterricht in Sumy, wie in anderen Frontstädten, nur online durchgeführt. Der Kontakt zu Gleichaltrigen wäre für die Kinder, die psychisch sehr belastet sind, nach all dem, was sie erlebt haben, hilfreich, sagt die Mutter. Sie erleben wieder Stress, da die Stadt regelmäßig beschossen wird.

„Ich wünsche mir nur eines – dass der Krieg endet. In der Straße zu gehen und nicht darüber nachzudenken, ob gleich etwas einschlägt… Und ich wünsche mir auch, nach Hause zu können, obwohl ich weiß, dass dort alles zerstört ist… Ich lasse die Kinder jetzt nicht mehr aus den Augen… Wisst ihr, wie sehr ich mich selbst dafür verurteile, was passiert ist? Ich konnte meinen Vater nicht alleine lassen und auch die Kinder nicht… Es dauert nur einen Moment, eine Sekunde! Vielleicht hätten meine Kinder keine physischen oder psychischen Traumata erlitten, wenn wir rechtzeitig weggefahren wären… Man darf das Leben der Kinder nicht riskieren! Kinder sind das Wertvollste, das Wichtigste…“

Laut dem Büro des Generalstaatsanwalts wurden seit Beginn des groß angelegten Angriffs mehr als 1681 Kinder verletzt. Mindestens 589 ukrainische Kinder sind gestorben. Die meisten Verletzten kommen aus den Regionen Donezk (598), Charkiw (459) und Dnipropetrowsk (190). Derzeit befinden sich auf den Frontgebieten von Donezk, wo eine obligatorische Evakuierung von Familien mit Kindern stattfindet, noch 167 Minderjährige.

Derzeit benötigt Darja weiterhin Rehabilitationsmaßnahmen. Wenn Sie das Mädchen unterstützen möchten, wenden Sie sich bitte an ihre Mutter.

Der Artikel wurde mit Unterstützung von DIGNITY – Dänisches Institut gegen Folter im Rahmen des Projekts „Durchsetzung von Rechtsprechung bei internationalen Verbrechen in der Ukraine“ erstellt und  das wurde von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe vorbereitet und von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte übersetzt.

Aktuelle Pressemitteilungen der IGFM

1508, 2025

Kevin Yeung

Kevin Yeung engagierte sich aktiv in der Hongkonger Demokratiebewegung und gründete 2020 die Online-Plattform „Bürgerversammlung“ auf Telegram. Wegen anhaltender Repression floh er 2023 nach Deutschland und beantragte Asyl – sein Antrag wurde jedoch abgelehnt. Die IGFM warnt vor seiner Abschiebung und fordert deutsche Behörden auf, Kevin Yeung weiterhin Schutz zu gewähren.

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