Hilfstransport in die Ukraine

Durch viele Spenden und nur durch das außerordentliche Engagement vieler Ehrenamtlicher konnte im September/Oktober eine weitere Hilfslieferung in die Ukraine gebracht werden. Im Interview berichtet Valerio Krüger, Sprecher des Vorstandes der IGFM, von der Reise und seinen Eindrücken.

200 Pakete Infusionsbesteck für Odesa

Interview mit Valerio Krüger, Sprecher des Vorstands der IGFM

Im März 2025 waren Sie bereits zu einem Hilfseinsatz in der Ukraine, nun im Oktober 2025 erneut. Was war der Grund für diese Reise? Wie war der Verlauf der Reise?

Im Morgengrauen des 29. Septembers starteten wir mit zwei Transportern in Cottbus. Diese waren beladen mit 200 Paketen mit Infusionsbesteck für das Regionale Kinderkrankenhaus in Odesa und mit weiterer medizinischer Hilfe für ein Krankenhaus in der Nähe von Charkiv. Gepackt hatte die Transporter Jens Leisenberg mit Hilfe vieler geflüchteter Ukrainer aus Cottbus. Jens Leisenberg ist IGFM-Mitglied und hat bereits über 30 mal Hilfstransporte in die Ukraine gebracht. Unsere erste Station war Sokal, eine Stadt in der Westukraine in Nähe der Grenze zu Polen. Damals im März brachten wir auch bereits gemeinsam einen Hilfstransport nach Sokal zur dortigen Caritas-Station.

Stationen des Hilfstransports;
Bild: NordNordWest, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons; Ortsangaben durch uns 

Im März hatte uns Sylvia Wähling, IGFM-Mitglied und ehemalige Mitarbeiterin im Internationalen Sekretariat der IGFM, begleitet. Jetzt war sie zwar nicht unmittelbar dabei, aber hat diesen Transport maßgeblich ermöglicht. Sie stand nämlich in Kontakt mit dem Medizinunternehmen aus Österreich, welches uns die große Sachspende (Infusionsbesteck) im Wert von 85.000 Euro übergeben hatte. Und auch wichtig zu erwähnen ist die Unterstützung des Menschenrechtszentrums Cottbus, wo die Sachen zwischengelagert wurden und von wo aus auch viele Spenden eingeworben wurden. Jetzt stand also der Transport an und für ein zweites Fahrzeug wurde ein zweiter Fahrer benötigt, so kam ich ins Spiel. Die Fahrt war lang und anstrengend und vor Ort erwartete mich meine erste Nacht mit Luftalarm, Drohnen am Himmel und dem Flugabwehrfeuer.

Wegen notwendiger Bürokratie rund um Zoll, Logistik und Beschaffung des Röntgengeräts, blieben wir zwei Tage in Sokal bei der lokalen Caritasstation und fuhren dann weiter nach Odesa. Dort kamen wir nach 16 Stunden Fahrt durch den Süden der Ukraine gegen 23 Uhr an. Odesa war noch von der Überschwemmungskatastrophe durch Unwetter in den Vortagen gezeichnet, ganze Straßenzüge standen unter Wasser. Nachts weckte uns der Luftalaram, die dann zu hörenden Drohnen, die Ziele in Odesa ansteuerten und das Flugabwehrfeuer. Am nächsten Tag konnten wir das Infusionsbesteck beim Kinderkrankenhaus abladen und uns mit dem Ärzteteam austauschen, die allen Unterstützern der IGFM sehr herzlich danken. Anschließend ging es direkt weiter Richtung Kyiv. 

Dort kamen wir am nächsten Tag an, besuchten das IGFM-Büro in Kyiv und trafen uns dort mit Anton Aleksejew, dem Direktor der IGFM-Sektion Ukraine und weiteren IGFM-Aktiven. In Kyiv trennten sich unsere Wege: Jens Leisenberg fuhr weiter nach Charkiv und lud die restlichen Hilfsgüter beim Krankenhaus ab. Auch der Transporter blieb dort, denn er soll zukünftig zur Evakuierung und Versorgung von Schwerverletzten aus Gebieten nahe der aktiven Kriegsfront eingesetzt werden. Ich fuhr über Sokal zurück nach Deutschland. 

Hatten Sie bei Ihrer Fahrt durch die Ukraine das Gefühl, dass der Krieg in jeder Region präsent ist? Meinen Sie, dass die Menschen in der Ukraine – abgesehen von tatsächlichen kriegerischen Angriffen – ihrem Alltag nachgehen?

Der Krieg ist prinzipiell überall präsent, wenngleich die Auswirkungen unterschiedlich sind: Im Grenzgebiet gibt es Militärposten auf den Straßen; man sieht auch auf den Straßen viele Soldaten. Im Schutz der nächtlichen Dunkelheit sind Militärtransporte unterwegs. Allgemein geht der Großteil der Menschen seinem Alltag nach: Die Kinder gehen zur Schule, man muss einkaufen, die Leute gehen arbeiten. Trotz der schweren Angriffe auf Kyiv öffneten am Morgen ganz normal die Läden und die Märkte.


Morgens um 9 Uhr ertönt in den Straßen eine Art Gong, zu vergleichen mit einem Stock, der nacheinander mehrmals auf den Boden geschlagen wird. Eine Minute der Stille wird dann gehalten für die Gefallenen dieses Krieges, nicht zu übersehen und überhören in der Nähe von Schulen und öffentlichen Einrichtungen. In jeder Stadt und in jedem Dorf werden an zentralen Plätzen Fotos der gefallenen Soldaten des jeweiligen Ortes aufgestellt. In
Lviv/Lemberg säumen unzählige Bilder und Namen einen gesamten Flügel der Garnisonskirche. Dort wird auch den Gefallenen des Krieges im Donbass seit 2014 gedacht. Es ist erschütternd, diese vielen Gesichter zu sehen.

Fotos der gefallenen ukrainischen Soldaten in Kyiv am Maidan, hier zu sehen viele gefallene kolumbianische Freiwillige. Neben den südamerikanischen Freiwilligen waren auf dem Maidan in Kyiv auch Bilder bzw. die Flaggen deutscher, britischer, kanadischer, US-amerikanischer Freiwilliger zu sehen. Die Solidarität mit der Ukraine ist enorm – auch dies lässt sich vor Ort erkennen. 

Haben Sie während Ihrer Fahrt kriegsbedingte Zerstörungen gesehen? Waren ländliche Orte genauso betroffen wie Städte?

Erst in Odesa habe ich das erste Mal eine durch einen Drohnenangriff zerstörte Wohnung gesehen. Es ist nicht so, dass man überall im Westen oder in der Mitte der Ukraine zerstörte Häuser sieht; im Osten des Landes allerdings sind ganze Dörfer und Ortschaften verwüstet. Während wir in Odesa übernachteten, hatte es einen Angriff von 22 iranisch-russischen Shahed/Geran-Drohnen gegeben. Am nächsten Tag konnten wir in den sozialen Medien einige Videoaufnahmen der angegriffenen Ziele sehen, es war zivile Infrastruktur, die angegriffen wurde. Die ständige Bedrohung und die rasche Frequenz aufeinander folgender Luftalarme schlagen sich natürlich auf die Psyche der Menschen nieder, aber in der Regel reagieren sie nicht jedes Mal mit Angst und Panik. Insbesondere in Odesa greifen russische Truppen so gut wie täglich die Stadt an, so makaber es ist, aber die meisten Menschen nehmen das als neuen Alltag an. 

Ihr erstrangiges Ziel war das Regionale Kinderkrankenhaus in Odesa. Welche Botschaft/Bitte haben Sie vom Krankenhaus mitgenommen?

In Odesa haben wir uns über eine befreundete Krankenpflegerin beim Kinderkrankenhaus angemeldet. Sie hat dann ihr Team mobilisiert; und auf einmal standen zehn Leute des medizinischen Dienstes bereit, die Transporter zu entladen. Sie und ihr Team haben sich zusätzlich zur aktuellen Hilfe auch aufrichtig für die Lieferung des medizinischen Materials in den letzten Jahren bedankt. Dadurch wurden unter anderem 4.000 Operationen in den letzten Jahren ermöglicht. Leider konnte nicht in allen Fällen geholfen werden. So wurde bei einem Bombenangriff mit Streubomben wurde vor einem Jahr ein 4-jähriges Kind schwer verletzt, und es wurde Nähmaterial für innere Organe benötigt. Aufgrund der Gefahrenlage konnte Jens Leisenberg mit dem damaligen Hilfstransport das Kind zwar mit den Materialien versorgen, aber es war leider zu spät, es hat es leider nicht überlebt. So verbindet uns bereits eine lange Geschichte mit dem Krankenhaus.

Insgesamt kümmert sich das regionale Kinderkrankenhaus um die Kinder des gesamten Oblast (Bezirk) Odesa. Es kümmert sich auch um Kinder, die aus frontnahen Gebieten evakuiert werden und vom Krankenhaus versorgt werden. Stromausfälle stören den Krankenhausablauf immer wieder, aber das lässt sich dank eines Stromgenerators meistern. Die Chefärztin berichtete, dass immer mehr Kranke aus Angst vor Drohnenangriffen lieber zuhause bleiben und erst zum Krankenhaus kommen, wenn sich der Krankheitsgrad unerträglich verschlimmert hat oder das Krankheitsbild schon deutlich ausgeprägt ist, was für die Betroffenen gefährlich ist.

Ein weiteres Ziel war das Treffen mit Mitgliedern der ukrainischen IGFM-Sektion in Kyiv. Wie war die Grundstimmung unter den Mitgliedern? Was haben Sie über die aktuelle Arbeit der Sektion erfahren? Welche Botschaft/Bitte haben Sie von der Sektion mitgebracht?   

Der Krieg war zwar ein zentrales Thema, aber es hat unsere Gespräche nicht vollends bestimmt. Das Team lebt seit drei Jahren in dieser Situation und lebt ihren Alltag, so gut es geht. In Kürze beginnt die Sektion zusammen mit Antikorruptionsbehörden des obersten Antikorruptionsgerichts mit einem neuen Projekt zur Förderung des Rechtsstaats, bei dem Gerichtsprozesse beobachtet und auf Korrektheit geprüft werden. Dieses Projekt ist zusammen mit der deutschen Sektion entwickelt worden und wird in diesem und im nächsten Jahr vom Auswärtigen Amt finanziell gefördert. Da gab es genug zu besprechen. Aktuell stand das Auswahlverfahren für Studenten an, die mit dem IGFM-Team die Gerichtsprozesse begleiten werden. 

Was den Krieg angeht, haben wir auch kritische Töne gehört über die Männer im eigenen Land, die ab einem gewissen Alter die Ukraine nicht mehr verlassen dürfen. Natürlich leiden auch Menschen darunter, dass sie bei Einsatz von Zwangsmaßnahmen eingezogen werden können. Das ist eine der unschönen Begleiterscheinungen: Obwohl die Menschen alle hinter ihrem Land stehen, ist der mögliche Fronteinsatz für einzelne verständlicherweise eine Belastung. Insgesamt waren unsere Gespräche bei einer positiven Grundhaltung von gegenseitigem Interesse geprägt. Die ukrainischen IGFM-Mitglieder, es waren an diesem Tag ja nur drei Personen,  erkundigten sich lebhaft, wie es denn in anderen Sektionen und insbesondere in der Geschäftstelle in Frankfurt aussieht. Sie wünschen sich mehr gegenseitigen Austausch und befürworten weitere Begegnungen. 

Zwischenfrage: Wie wird die Reisediplomatie des ukrainischen Präsidenten Selenski gesehen?

Das war kein bestimmendes Thema. Große politische Themen waren nicht Gegenstand unserer Gespräche. Wenn, dann ging es um die Hilfe Deutschlands und Europas und der USA, aber auch da sind die Menschen relativ abgeklärt, sagen aber auch ganz deutlich: Wenn Ihr nichts tut, dann kommt der Krieg zu Euch.

Welche Botschaft möchten Sie als Bilanz Ihrer Begegnungen der deutschen Politik mitgeben?

Die Menschen in der Ukraine sind entschlossen und geschlossen im Kampf um ihre Existenz; es geht nicht um politische Detailfragen. Die Menschen haben früher ohne Probleme Russisch und Ukrainisch miteinander gesprochen; viele Menschen, die früher nur Russisch gesprochen haben und heute noch kein Ukrainisch können, sprechen zum Teil weiterhin Russisch, einige lernen jedoch auch bewusst Ukrainisch und versuchen die russische Sprache zu vermeiden, aber dies sind subjektive Entscheidungen. Sie wissen, dass Putin ihnen ihre Existenz und ihre Identität nehmen möchte.

Die Ukraine ist weiterhin ein aufgeschlossenes, europafreundliches Land. Die Ukrainer verkörpern den Kampf für Freiheit wie kaum ein anderes Land in der Welt. Meine Botschaft an die deutsche Regierung: Unterstützt die Ukraine mit allem, was möglich ist; beendet alle Geschäfte mit Russland, denn Russland finanziert aus allen Einnahmen seine Militärausgaben. Russlands Drohungen machen deutlich, dass sie nicht nur die Ukraine als Teil des neuen Russlands sehen, sondern auch weitere Staaten. Fördert die Einheit und Stabilität Europas!

Das Interview führte Karl Hafen mit Valerio Krüger am 25.10.2025

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