Im Osten Rumäniens: Brot und Holz unerschwinglich

Wenn Brot und Holz unerschwinglich werden
Ein Reisebericht über die humanitären Projekte der IGFM-Arbeitsgruppe Fulda für bedürftige Menschen in der Region Brăila im Osten Rumäniens
von Johannes Näder, Oktober 2022
Warm scheint die Oktobersonne auf das in einer Flussschleife gelegene Dorf Pitulaţi, 30 Kilometer westlich der rumänischen Großstadt Brăila. Hier wohnt die neunköpfige Familie Giot. Als unsere beiden Autos vor ihrem Grundstück halten, erwarten uns die Kinder schon fröhlich am Gartentor, und vom Haus her eilt Mutter Georgiana mit ihrem wenige Monate alten Baby herbei. Auch Vater Iulian tritt dazu, im Arm seine zweitjüngste Tochter. Freundlich schüttelt er unsere Hände.
Zu neunt in zwei Zimmern aus Lehm
Wir kennen die Giots bisher nur aus Berichten und Fotos, mit denen wir uns auf den Besuch vorbereitet haben. Wir wissen deshalb, dass bei ihnen nur auf den ersten Blick alles in Ordnung ist: Der Hof wirkt aufgeräumt, Wäsche trocknet an der Leine, vor dem Zaun ist etwas Holz für den Winter geschichtet. Doch der Stapel reicht kaum für einen Monat und die Fenster werden die Wärme nicht im Haus halten, weswegen Iulian Giot sie mit Brettern und Plastikfolie notdürftig abgedichtet hat. Drinnen ist es entsprechend dunkel. Die drei Betten im einzigen Schlafzimmer des Hauses muss sich die Familie teilen. Während sich die jüngeren Kinder liebevoll um den Vater drängen, erklärt er uns, dass sie keinen eigenen Stromanschluss haben, dazu fehlt eine Leitung zum 400 Meter entfernten Verteiler des Energieversorgers. Dem Winter blickt Iulian Giot mit großer Sorge entgegen, denn seine Frau und seine Kinder erwarten dann Kälte und Dunkelheit.
Nach einer Pause von zwei Jahren sind wir als IGFM-Arbeitsgruppe Fulda wieder persönlich in Ostrumänien vor Ort, um uns ein Bild von unseren Projekten in der Region Brăila zu machen, um mit bedürftigen Familien zu sprechen und neue Bildungspatenschaften zu vereinbaren.
Die Krisen dieser drei Jahre haben einkommensschwache Menschen im Osten Europas weitgehend ungebremst getroffen und ihre Probleme verschärft, besonders auf dem Land: die Pandemie mit ihren Auswirkungen für die Wirtschaft und das Bildungssystem, klimabedingte Ernteausfälle, vor allem aber die Teuerung von Lebensmitteln, Strom und Heizmaterial als Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der zudem viele Flüchtende aus dem Kriegsgebiet über die nahe Grenze getrieben hat. Häufiger als früher kommt es vor, dass der geringe Verdienst und die schmalen Sozialleistungen nicht mehr ausreichen, um eine Familie zu versorgen. Zwar wurde der Bruttomindestlohn Anfang des Jahres offiziell auf 519 Euro erhöht, doch verdienen Tagelöhner oft weniger als die Hälfte, und die Regierung hat die geringen Sozialleistungen nicht ausreichend an die Inflation angepasst. Häufiger als früher sind beide Eltern gezwungen, die Kinder bei der Großmutter zurückzulassen, um im westlichen Ausland als Erntehelfer, auf Baustellen oder in Fleischfabriken zu arbeiten. Rutschten früher Familien vor allem durch Krankheit und Schicksalsschläge in bittere Armut ab, so bedroht die Inflation die Existenz derer, die zuvor leidlich über die Runden kamen.

Im Dorf Pitulaţi, 30 Kilometer westlich der rumänischen Großstadt Brăila wohnt die neunköpfige Familie Giot.
Die Pastoren Daniel Buzatu und Viorel Mitrea, mit denen wir seit gut zwei Jahrzehnten unsere Hilfe in der Region Brăila organisieren, haben uns über diese Entwicklungen während der langen Zeit unserer Abwesenheit fast wöchentlich mit Fotos, Berichten und Telefonaten informiert. Mit ihrer Hilfe und dank zahlreicher Spenden konnten wir unsere Projekte auch während der Pandemiejahre fast uneingeschränkt fortsetzen. Aber die Arbeit der IGFM-Fulda lebt seit mittlerweile 33 Jahren von unserem direkten Kontakt mit den notleidenden Menschen vor Ort, wodurch wir ihre Probleme und Sorgen verstehen und sie unkompliziert und angemessen unterstützen können. Wie wichtig diese Begegnungen sind, merken wir bei jeder der 27 Familien, die wir in diesen Oktobertagen treffen.

Geordnete Armut bei Familie Tiutiu aus Şuţeşti. Einen Stromanschluss kann sich die Familie nicht leisten, deshalb hat die IGFM ihnen eine Photovoltaikanlage auf 12V-Basis geschenkt.
Das Wohl der Kinder im Blick
Auch das Anwesen der Familie Tiutiu im Dorf Șuțești wirkt sauber und gepflegt. Die Eltern Catalin und Viorica leben hier mit ihren fünf Kindern im Alter zwischen fünf und sechzehn Jahren. Wie die Giots bewohnen sie ein niedriges Lehmhaus mit einem Schlaf- und einem Wohnraum, in dem neben dem gemauerten Herd ein paar Stofftiere als einziges Spielzeug auf einer Bank aufgereiht sind. Im Schlafzimmer gibt es immerhin bereits ein Isolierglasfenster. Die einzige Lampe an der Decke wird über ein 12-Volt-Solarpanel mit Strom versorgt, das Viorel Mitrea in unserem Auftrag vor zwei Jahren dort installiert hat. Einen Stromanschluss können sich auch die Tiutius angesichts der sprunghaft gestiegenen Energiekosten nicht leisten. Neben dem Lehmhaus wartet ein kleiner, aber sauber gemauerter Rohbau auf die Fertigstellung. Catalin erzählt uns, dass er gerne wenigstens eins der beiden neuen Zimmer noch vor dem Winter fertigstellen möchte, damit die Kinder in den Kältemonaten dort wohnen können. Aber für das nötige Baumaterial reicht sein Tagelöhnerverdienst nicht. Wir entscheiden noch vor Ort, dass wir der Familie zwei Isolierglasfenster und die Tür für den Anbau finanzieren. Durch eine Familienpatenschaft unserer Fuldaer Spender können wir sie während des Winters mit monatlich 75 Euro unterstützen. Auch der Familie Giot sagen wir zwei Fenster zu. Außerdem übernehmen wir die 650 Euro für den Anschluss ans Stromnetz und vereinbaren mit Pastor Buzatu, dass er ihnen im Rahmen unserer Brennholzpatenschaften im Dezember je eine Fuhre Holz liefert, damit die dunkle Jahreszeit für sie erträglich wird.
Trotz aller Armut und der Aussicht auf den entbehrungsreichen Winter vermitteln uns beide Familien den Eindruck, dass sie das Beste aus ihrer Situation zu machen versuchen und dabei vor allem das Wohl ihrer Kinder im Blick haben. Die Älteren gehen alle zur Schule – keine Selbstverständlichkeit, wie wir aus anderen Familien wissen: Viel zu oft treffen wir auf desolate Verhältnisse, in denen 14- oder 15-Jährige ohne Abschluss als Tagelöhner zum Familienverdienst beitragen müssen. Dabei ist der Schulbesuch die einzige Chance, dem prekären Leben unter ärmsten Bedingungen zu entkommen. Wir knüpfen unsere Unterstützung deshalb stets an die Bedingung, dass alle schulpflichtigen Kinder regelmäßig am Unterricht teilnehmen, und ermutigen die älteren, uns in E-Mails von ihren Zielen und Lernerfolgen zu berichten – aber auch von äußeren Schwierigkeiten und von ihren Wünschen nach Unterstützung.
In der Region südlich von Brăila arbeiten wir zudem mit der Leiterin der Sekundarschulen von Unirea und Valea Canepii, Veronica Huiu, und mit dem kommunalen Schulsozialarbeiter Marian Bacan zusammen. Durch sie erfahren wir frühzeitig, wenn durch Arbeitsplatzverlust, Krankheit oder Tod eines Familienmitglieds der Schulbesuch eines Kindes gefährdet ist, und können gezielt helfen.

Bittere Armut bei Familie Socol in Valea Canepii. Die Kinder haben die Maisgripse im Dorf gesammelt, um im Winter heizen zu können. Geld für Holz kann die Familie nicht aufbringen.
Bildungspatenschaften als Chance
Wer wie der 14-jährige Laurentiu Tarasov aus Unirea nach der achten Klasse eine weiterführende Schule besuchen will, braucht nicht nur gute Abschlussnoten. Die monatlichen Fahrtkosten nach Brăila, wo fast alle Berufsschulen und Gymnasien des Kreises angesiedelt sind, überfordern fast jede bedürftige Familie vom Land.
Wir lernen Laurentiu und seine alleinerziehende Mutter bei einem Besuch mit dem Schulsozialarbeiter Marian Bacan kennen, denn gerade sind Herbstferien. Laurentiu besucht seit Sommer die Berufsschule im 25 Kilometer entfernten Brăila und möchte Koch werden, aber aufgrund der steigenden Lebensmittel- und Heizkosten kann seine Mutter die Bustransportkosten nicht mehr bezahlen. 90 Euro muss sie dafür im Monat aufwenden, nur 48 Euro erhält sie an Kindergeld.
Es sind junge, hoffnungsvolle Menschen wie er, deren Bildungsweg wir durch unser SchulpatenProjekt unterstützen und absichern möchten: Wir wollen Laurentiu künftig mit 50 Euro monatlich bei den Fahrtkosten unterstützen und stellen ihm ein gestiftetes Notebook und Schulmaterialien zur Verfügung.
Das Busgeld zahlt die Brăilaer Stiftung Lumina in unserem Auftrag jeden Monat an Laurentiu aus, wodurch das Geld der Familie steuerfrei zugute kommt. Die Vorschläge für Jugendliche, denen eine Patenschaft den Besuch der weiterführenden Schule ermöglicht, stammen von Pastor Daniel Buzatu, Direktorin Veronica Huiu, Marian Bacan oder von der engagierten Leiterin der Stiftung Lumina, Carmen Neacșu, mit der uns schon seit 20 Jahren eine vertrauensvolle Zusammenarbeit verbindet. Grundsätzlich entscheiden wir nach einer persönlichen Begegnung über die Förderung und bitten die älteren Jugendlichen, uns zweimal im Jahr kleine Berichte zukommen zu lassen, die wir für ihre Fuldaer Bildungspaten übersetzen und weiterleiten. Acht neue Patenschaften konnten wir während unseres Besuchs vereinbaren, zur Hälfte Mädchen. Insgesamt werden es dann 25 Familien sein, die wir im Jahr 2023 monatlich finanziell unterstützen wollen.
Zuversichtlich haben uns die Rückmeldungen der fünf Jugendlichen gestimmt, die mit unserer
Förderung dieses und letztes Jahr die Schule abschließen konnten: Bogdan macht nun eine Ausbildung als medizinisch-technischer Assistent an einer Krankenpflegeschule in Brăila, Geanina hat eine feste Anstellung in einem Supermarkt gefunden, Sorin-Valentin arbeitet als Schweißer auf der Werft, Piroșcă und Ionuț haben ebenfalls die Berufsschule als Schweißer abgeschlossen und sich gerade an der Werft beworben. Sie werden in einigen Wochen volljährig und sehen dem Arbeitsbeginn erwartungsvoll entgegen. In den kurzen Begegnungen mit diesen jungen Menschen spüren wir, wie viel ihnen die Teilhabe an Bildung bedeutet: eine berufliche Perspektive, eine Chance für ihr Leben, die sie erfolgreich nutzen.

Familie Tiutiu aus Şuţeşti. Nur weil Fuldaer Spender für den ältesten Jungen Alin Marian (er fehlt auf dem Bild) die Buskosten übernehmen, kann er die höhere Schule besuchen. Nächstes Jahr wird ihm Madalina folgen.
Verlässlichkeit in schwierigen Zeiten
Frau Neacșu und die Projekte ihrer Stiftung kennen und fördern wir seit langem: Junge Erwachsene, die bis zu ihrem 18. Geburtstag in staatlicher Fürsorge waren, können auf zwei mit unserer Hilfe renovierten Etagen im Stiftungsgebäude wohnen und erhalten Hilfe beim Berufseinstieg. Ein weiteres Projekt der Stiftung Lumina liegt uns besonders am Herzen: Es richtet sich an 50 alte, alleinstehende Menschen in Brăila, deren niedrige Rente von 200 Euro nicht zum Leben reicht. In welcher Reihenfolge sie es ausgeben, listet Frau Neacșu uns auf: „Miete, Heizkosten, Medikamente. Bleibt dann noch Rente übrig, essen die alten Menschen etwas.“ Deshalb packt sie regelmäßig Tüten mit Lebensmitteln, die von den jungen Erwach
senen aus dem Wohnprojekt der Stiftung Lumina in einem freiwilligen Besuchsdienst übergeben
werden. Wir wollen das Seniorenprojekt auch im kommenden Jahr mit 2.500 Euro für Lebensmittel unterstützen, also mit 50 Euro pro Person – vor allem im Winter.
Auch die Projekte von Pastor Daniel Buzatu fördern wir in diesem Jahr wieder: In der Nähstube lernen Mädchen aus armen Familien unter fachlicher Anleitung den Umgang mit der Nähmaschine und werden sozialpädagogisch betreut. Ein von uns ausgestatteter Computerraum ermöglicht ihnen und anderen Jugendlichen erste Erfahrungen mit Textverarbeitung und Internetrecherche.
In einem langen Gespräch berichtet uns Pastor Buzatu, welche Herausforderungen der nahe Krieg und die durch ihn ausgelöste Fluchtbewegung für seine Arbeit bedeutet: In den ersten Kriegsmonaten brachte er bis zu 60 geflüchtete Menschen gleichzeitig in seinen Räumen unter, die nach der Grenzquerung in Brăila vorübergehend Schutz suchten, bevor sie entweder weiterreisten oder ins Kriegsgebiet zurückkehrten. Die etwa 500 ukrainischen Frauen und Kinder, die vorläufig in Brăila geblieben sind, werden jetzt von der Stadt dezentral untergebracht, und Pastor Buzatu hat eine Kindergartengruppe für die Jüngsten und nachmittägliche Hortbetreuung für ältere Kinder eingerichtet. Im dafür genutzten Raum lagerten noch vor einigen Jahren die Hilfsgüter der IGFM-Fulda, jetzt ist er liebevoll mit kindgerechten Möbeln und Spielzeug ausgestattet. Wir sagen dem Pastor einen Heizkostenzuschuss in Höhe von 1.000 Euro zu, damit er all diese Projekte trotz
der gestiegenen Energiepreise fortführen kann.
Als wir nach drei Tagen voller intensiver Begegnungen und Gespräche in Richtung Fulda auf
brechen, bleibt uns der Eindruck, dass die Krisen der letzten drei Jahre für viele der von uns unterstützten Menschen in Ostrumänien ganz unmittelbar existenzbedrohend sind. Für zahlreiche Familien ist es schwieriger geworden, die Stromrechnung zu begleichen, im Winter wenigstens einen Raum zu heizen, die Kinder satt zu bekommen und ihnen den Schulbesuch zu ermöglichen. Wir sind uns einig: Gerade in dieser herausfordernden Zeit brauchen die notleidenden Menschen am östlichen Rand der Europäischen Union die Unterstützung der IGFM-Fulda dringend, und auf die Hilfe der Menschen aus Fulda und Umgebung können sie zählen.