Reise auf den Spuren von Boko Haram

Dr. Emmanuel Ogbunwezeh berichtet

Vom 11. Juni bis 9. Juli diesen Jahres war Dr. Emmanuel Ogbunwezeh, Afrika-Referent und Vorstandsmitglied der IGFM, in seinem Heimatland Nigeria unterwegs, um sich ein Bild von der Situation dort, insbesondere den Auswirkungen der Terrorkampagne von Boko Haram, zu machen, und das Schulprojekt zu besuchen, das die IGFM in Zusammenarbeit mit den Somasker- Patres in der Region Enugu durchführt.

Nach meiner Ankunft in Nigeria begab ich mich nach Jos, im Bundesstaat Plateau; die Stadt liegt sehr zentral, ist ein Verkehrsknotenpunkt und ein Treffpunkt für Handel, Geschäfte und Transport. Auch wenn Jos in den vergangenen Jahren den Terror von Boko Haram am eigenen Leib erfahren hat, ist die Stadt relativ sicher, besonders im Vergleich zu Städten in den nördlichen Bundesstaaten. Vor allem aber ist Jos ein Punkt, durch den sich der größte Teil der Flüchtlinge aus dem Norden bewegt, und wo viele von ihnen in Flüchtlingslagern ausharren.

Dr. Emmanuel Ogbunwezeh, Afrika-Referent und Vorstandsmitglied der IGFM, war vom 11. Juni bis zum 9. Juli 2018 wieder in seinem Heimatland Nigeria.

Terrormiliz zerstört die Lebensgrundlage der Menschen

In den ersten zwei Wochen habe ich mit etwa fünfzig Menschen gesprochen, die Opfer der Anschläge von Boko Haram geworden waren. Fast alle von ihnen verloren, entweder durch die Anschläge oder durch ihre Flucht, ihren gesamten Besitz und ihre Lebensgrundlage, und fast alle verloren Angehörige. Die meisten Opfer wollten auf gar keinen Fall, dass ihre Namen genannt werden, weil sie selbst in Jos und Umgebung noch nicht außer Reichweite von Boko Haram sind, und weitere Gewalt als Racheakt fürchten.

Beispielhaft sei Frau Obiageli Nweke genannt, ursprünglich wohnhaft in Nguru im Bundesstaat Yobe im Nordosten Nigerias. Sie verlor ihre erfolgreiche Schneiderei und ihr gesamtes Eigentum bei einem Angriff von Boko Haram; ihr Ehemann und ihre Tochter werden immer noch vermisst. Sie floh mit ihren restlichen Kindern in die Bundeshauptstadt Abuja, wo sie Verwandte hat. Ohne irgendwelchen Besitz und ohne Arbeit ist es für sie schwierig, für sich und ihre Kinder zu sorgen, auch wenn sie als ausgebildete Schneiderin hier einen gewissen Vorteil gegenüber jenen Flüchtlingen hat, die keinen Beruf gelernt haben.

Zahlreiche Menschen in Nigeria werden Opfer der Terrorgruppe Boko Haram.

Epidemie von Witwen und Waisen

Bereits bei meinem vorherigen Besuch in Nigeria hatte ich erfahren, dass Boko Haram in vielen Fällen gezielt die Männer, die in den Familien in der Regel das meiste Geld verdienen, umbringt, und Frauen und Kinder zurücklassen. So erzeugen sie eine „Epidemie von Witwen und Waisen“, wie ich es damals nannte, die entweder ihren überlebenden Angehörigen wirtschaftlich zur Last fallen, oder aber sich irgendwie alleine durchschlagen müssen und so weiteres Elend in den von Christen bewohnten Landesteilen erzeugen.

Die Erfahrung, mit den Opfern von Boko Haram zu sprechen, war markerschütternd. Wer sein ganzes Leben in sicheren und politisch stabilen Verhältnissen verbracht hat, kann sich nicht vorstellen, was diese Menschen durchmachen, und welche Leiden und welche Traumata Boko Haram über den Norden Nigerias gebracht haben und immer noch bringen.

Ich traf auch den Ingenieur Mark Lipdo, Direktor der Stefanus-Stiftung, die sich das Ziel gesetzt hat, den Opfern religiös motivierter Gewalt in Nigeria zu helfen; die Stiftung unterhält ein Flüchtlingslager auf dem Gelände einer stillgelegten weiterführenden Schule in Bukuro, einem Vorort von Jos, wo zum Zeitpunkt meines Besuchs 205 Familien mit insgesamt 566 Personen Zuflucht gefunden haben. Die Stiftung tut ihr Möglichstes, um mit Hilfe von Spendengeldern die Ernährung und medizinische Versorgung der Bewohner des Lagers sicherzustellen, aber es fehlt an Vielem, auch weil die Regierung das Lager bisher vollkommen ignoriert.

In Michika, im Bundesstaat Adamawa im Nordosten Nigerias, traf ich mich mit Dr. Rebecca Dali vom Center for Caring Empowerment and Peace Initiative (CCEPI, etwa: Zentrum zur Befähigung zur Fürsorge und für Friedensinitiative); Frau Dr. Dali und ihre Organisation stehen an vorderster Front der Bemühungen, Hilfsgüter für die Opfer von Boko Haram tief im Nordosten Nigerias – der Hochburg der Terrorbewegung – bereitzustellen. Sie hat ihren Sohn durch den Konflikt zwischen Christen und Muslimen in Jos verloren und widmet sich seither der Unterstützung von Angehörigen der Opfer solcher Verbrechen.

Unter anderem führte sie Hilfslieferungen an die Eltern der entführten Schulmädchen von Chibok durch. Die Geschichten, die sie über das Treiben von Boko Haram in der Region und ihre Erlebnisse während ihrer Hilfslieferungen erzählt, sind absolut erschütternd.

Boko Haram bringt oftmals gezielt Männer um, da diese in der Regel das meiste Geld verdienen, und hinterlässt somit Witwen und Waisen.

Die Begegnung mit diesen beiden großartigen Menschen, Mark Lipdo und Dr. Rebecca Dali, gibt mir neue Hoffnung für die Binnenvertriebenen in Nigeria – Hoffnung, dass diese Menschen eine neue, sichere Heimat finden, in der sie bald ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten und sich, soweit es ihnen noch möglich ist, ein neues Leben aufbauen können.

Ein deutlicher Kontrast zu diesem Gefühl ist die Haltung von Regierung und Behörden, welche die Flüchtlinge weitgehend im Stich lassen, und die sich auch nach sechs Jahren des bewaffneten Konflikts nicht durch eine entschlossen durchgeführte und klare Resultate erzeugende Strategie gegen Boko Haram hervorgetan haben. Im Gegenteil, viele Gouverneure im muslimischen Norden Nigerias schauen bei Angriffen gegen Christen weg, und einige von ihnen werden beschuldigt, mit den Tätern unter einer Decke zu stecken. Darüber hinaus werden Christen im Norden auf vielfältige Weise von den Regierungen der Bundesstaaten diskriminiert und unterdrückt, sodass, wenn sich nichts ändert, das Christentum zumindest im Nordosten Nigerias über kurz oder lang ausradiert wird.

Auch während meiner Reise ging der Terror von Boko Haram weiter. Allein in den vier Wochen, die ich in Nigeria verbracht habe, hat die Terrorkampagne nach offiziellen Angaben 556 Todesopfer gefordert.

Wesentlich erfreulicher und ermutigender war mein darauf folgender Besuch in der Region Enugu, um das Schulprojekt der IGFM und der Somasker- Patres zu besuchen. Die Familien der Mädchen waren alle sehr dankbar für die Chance, die unser Projekt ihren Töchtern bietet, die sonst niemals die Gelegenheit für eine Schulbildung erhalten hätten. Ich erhielt zahlreiche Briefe für Sponsoren, in denen die Mädchen und ihre Eltern ihre Dankbarkeit ausdrückten, sowie Namen und Bilder von vielen anderen Mädchen, die noch immer eine Ausbildung benötigen – denn trotz aller großzügigen Spenden kann unser Projekt nur einer, gemessen an der Bevölkerung der Region, sehr kleinen Anzahl Mädchen helfen. Doch jeder noch so kleine Beitrag macht für das Mädchen, dem er zu Gute kommt, einen gewaltigen Unterschied, denn er eröffnet dem Mädchen die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und einen Beruf zu ergreifen, der über einfache Hilfstätigkeiten hinausgeht. Jedes Mädchen, dem wir eine Schulbildung finanzieren, ist ein Beitrag für die Zukunft Nigerias.

Mehr Infos zum Patenschaftsprogramm für Mädchen

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