Die Kühltruhe als Symbol für den eingefrorenen Friedensprozess zwischen türkischem Staat und Kurden

Sieht man die Bilder der zerstörten Stadt Cizre im Südosten der Türkei, die überwiegend von Kurden bewohnt wird, denkt man eher an Kriegsschauplätze in Syrien oder im Irak. Weite Teile der Stadt wurden vom türkischen Militär zwischen Dezember 2015 und April 2016 zerstört. 100.000 der ehemals 120.000 Einwohner mussten fliehen.

Über die Opferzahlen gibt es verschiedene Angaben. Die „Menschenrechtsstiftung der Türkei“ (Türkiye İnsan Hakları Vakfı, TİHV) spricht von 178 getöteten Zivilisten, allein in Cizre. Selbst die nicht-kurdische Oppositionspartei CHP (die kemalistisch, sozialdemokratische „Republikanische Volkspartei“) spricht von schweren Menschenrechtsverletzungen und fordert eine umfassende Aufklärung.

Türkei – nicht Syrien: Die Stadt Cizre nach der Strafaktion des türkischen Militärs gegen Kurden. (Bild: Nedim Yılmaz, FlickrCC BY-SA 2.0)

Abbruch des Friedensprozesses durch die türkische Regierung

Der seit Jahrzehnten andauernde Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Minderheit schien sich zunächst beruhigt zu haben, nachdem die Regierung seit März 2013 mit der verbotenen und mit Waffengewalt kämpfenden PKK („Arbeiterpartei Kurdistans“) über einen Frieden im Südosten der Türkei verhandelte.

Unabhängige Beobachter sind sich einig, dass der Wahlerfolg der prokurdischen Partei HDP („Demokratische Partei der Völker“) bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 den Kurswechsel in der Kurdenpolitik der türkischen Regierung auslöste. Die HDP erhielt 13% der Wählerstimmen und die Regierungspartei AKP („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) verlor ihre absolute Mehrheit. Die Regierung konnte dadurch ohne die Zustimmung der HDP keine Verfassungsänderungen mehr verabschieden. Die türkische Regierung änderte daraufhin die Tonlage gegenüber der kurdischen Minderheit und brach de facto den Friedensprozess ab – nach Einschätzung der allermeisten Beobachter aus rein wahltaktischen Gründen.

Augenzeugen berichteten, dass das türkische Militär in manchen Ortschaften und Stadtteilen völlig wahllos in Häuser schoss und Bomben in Wohngebiete warf. Die türkische Regierung erklärte, es handelte sich um „erfolgreiche“ Operationen gegen „Terroristen“. (Bild: Rebecca Harms, FlickrCC BY-SA 2.0)

Eingefrorener Friedensprozess

Die türkische Regierung verschärfte ihre Haltung gegenüber Vertretern der Kurden so weit, dass sie auf der Grundlage der hoch umstrittenen Anti-Terrorgesetzgebung umfassende Verhaftungen von kurdischen Politikern und anderen kurdischen Personen des öffentlichen Lebens ankündigte. Die darauf folgenden weiteren Abläufe in und um Cizre lassen sich nicht mehr sicher rekonstruieren. Kurdische Jugendliche, die vermutlich der PKK nahe standen oder auch deren Jugendorganisation angehörten, riefen in ihren Heimatorten Selbstverwaltungszonen aus und errichteten Barrikaden.

Die türkische Regierung nahm dies zum Anlass, um seit Dezember 2015 militärisch gegen weite Teile des von Kurden bewohnten Südostens der Türkei vorzugehen. Nach eigenen Aussagen um „die Städte von Terroristen zu säubern“. Das türkische Militär setzte neben Panzern und Artillerie auch Luftschläge ein, um Häuser und teilweise ganze Straßenzüge zu zerstören. Die

Besonderheit in dieser neuen Eskalation der Gewalt war dabei jedoch nicht die Verwendung von schweren Waffen, sondern vielmehr die Aggression gegenüber größeren Städten, die überwiegend von Kurden bewohnt werden. In den 90er Jahren blieben die Militäraktionen weitgehend auf ländliche Gebiete beschränkt.

Am 14. Dezember 2015 wurde eine Ausgangssperre über Cizre und andere Orte verhängt, die für die Einwohner dramatische Folgen hatte. Die Strom- und Wasserzufuhr war stark eingeschränkt, Medikamente und Essen waren knapp. Wer die Ausgangssperre übertrat und beispielsweise versuchte, Tote zu bergen oder diese zu begraben, galt als „Terrorist“ und „durfte“ beschossen werden. Falls es den Einwohnern doch gelang, einen Verstorbenen zu bergen, mussten diese aufgrund der mangelhaften Versorgungssituation in Kühltruhen aufbewahrt werden. Seither ist die Kühltruhe zum traurigen Symbol für den wohl eingefrorenen Friedensprozess zwischen der Türkei und den Kurden geworden.

Die jahrzehntelange Zwangstürkisierung und der staatlich geförderte türkische Nationalismus hat viele Kurden verbittert. Die militärischen Strafaktionen des türkischen Militärs haben darüber hinaus viele von ihnen wirtschaftlich ruiniert. (Bild: Nedim Yılmaz, WikipediaCC BY-SA 2.0)

Militärische Operation auf „erfolgreiche Art und Weise“ zum Abschluss gebracht

Am 11. Februar 2016 erklärte die Regierung die militärische Operation für beendet. Der türkische Innenminister Efkan Ala führte dazu aus, sie sei auf „erfolgreiche Art und Weise“ zum Abschluss gebracht worden. Am 1. März 2016 hoben die Behörden die Ausgangssperre auf.

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