EU-Partner betreibt ethnische Säuberung 

Die IGFM kritisiert Erdogans Einmischung in den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien. Die Türkei soll sich an die Geschichte erinnern.

Vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit greift Diktator Alijew mit Militärschlägen die armenische Enklave Berg-Karabach/ Nagorny-Karabach an. Videos aus der Hauptstadt Stepanakert zeigen Artillerieschläge, Drohnen und Gewehrsalven sowie Menschen, die in Keller flüchten und Schutz suchen. Die IGFM verurteilt den aserbaidschanischen Angriffskrieg aufs Schärfste und warnt vor gewaltsamen ethnischen Säuberungen. Die Menschenrechtsorganisation fordert Deutschland und die EU auf, alle wirtschaftlichen Beziehungen mit Aserbaidschan sofort zu stoppen und empfindliche Sanktionen gegen das Alijew-Regime zu verhängen.

Werden deutsche und europäische Spitzenpolitiker weiter untätig bleiben und damit die Existenz des eigenständigen Staates Armenien aufs Spiel setzen? 

Auf dem geschlossenen Flughafen Stepanakerts, der Hauptstadt Berg-Karabachs, haben sich hunderte Menschen versammelt mit der Hoffnung auf Evakuierung. 

SONDERNEWSLETTER, 21. September 2023

Während diese Zeilen geschrieben werden, zittern die Bewohner der armenischen Enklave. Sie haben Angst vor dem was kommt, die Ungewissheit ist quälend angesichts der erfolgten Bombardierung, Hunderten Toten und den hochgerüsteten aserbaidschanischen Soldaten, deren Kreis sich immer enger um Berg-Karabach/ die de-facto-Republik Artsach zieht.

Und doch: das internationale Medieninteresse ist weiterhin gering. Seit Monaten wurde der einzige Landweg durch aserbaidschanische Kräfte blockiert. Am Anfang waren es noch „Umweltschützer“, irgendwann wechselten Uniformierte an ihre Stelle. Wir und viele andere Stimmen warnten seit Dezember 2022 vor der geplanten ethnischen Säuberung des Gebietes.

Weitere Informationen zur Blockade des Latschin-Korridors

Als in den letzten Wochen massive Truppenverbände Aserbaidschans an die Grenze zu Berg-Karabach verlegt wurden, wiegelten viele noch ab. Nach den ersten Artillerieschlägen am Dienstag, dem Einsatz von Hochpräzisionswaffen, der Umzingelung mehrerer Dörfer durch aserbaidschanische Truppen war dann aber klar, wovor soviele gewarnt haben: ein Krieg Aserbaidschans gegen die armenische Bevölkerung von Berg-Karabach.

Das Ziel ist ihre Vertreibung, Präsident Alijew ist hier auch ganz direkt: Am 20. April 2021 erst ließ er folgendes verlauten: „Genau wie vor und während des Krieges habe ich gesagt, dass sie [die Armenier] unser Land verlassen müssen, sonst werden wir sie mit Gewalt vertreiben. Und so geschah es. Gleiches gilt für den Sangesur-Korridor.“

In den folgenden Absätzen geben wir eine kurze Einordnung in den historischen Kontext.  
Dezember 2022. Die Blockade des Latschin-Korridors durch angebliche Umweltaktivisten führte zu einer humanitären Katastrophe in Berg-Karabach/ Republik Arzach. 
Armenien, ein jahrtausendealtes indoeuropäisches Volk zwischen Orient und Okzident, der erste christliche Staat der Welt, fiel nach dem ersten Weltkrieg, nach einem der grausamsten Völkermorde der Menschheitsgeschichte mit bis zu 1,5 Millionen Opfer, direkt in die Hände der stalinistischen Sowjetdiktatur. In den Grenzverträgen der beiden westlichen Außenseiter Stalin und Atatürk, wurde ihnen über die Hälfte ihres jahrtausendealten Siedlungsgebiets rund um ihren heiligen Berg Ararat, auf dem die Arche Noah gestrandet sein soll, abgesprochen und an die Türkei (heutiges Ostanatolien) vergeben. Zudem wurde das armenische Volk in zwei Teile zerschnitten.

Ein kleines Gebiet im Karabachgebirge, das fast ausschließlich von Armeniern bewohnt war, wurde als „Autonomes Gebiet Berg-Karabach“ der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeschanzt.  Seither streben die Karabach-Armenier nach der Wiedervereinigung mit Kernarmenien. Mit dem Zerfall des Sowjetsystems waren die Hoffnungen groß und Millionen Armenier säumten die Straßen mit den Rufen „Wir sind ein Volk“. Doch weder das sowjetische System, noch das neue unabhängige Aserbaidschan war bereit, den Armeniern ethnische Sonderrechte einzuräumen, nicht einmal solche, die ihnen als Autonomes Gebiet unter Stalin gewährt wurden.

Nach dem ersten Massaker an der armenischen Bevölkerung in der aserbaidschanischen Stadt Sumgait, kam es zu einer Gewaltspirale, die in den „Ersten Karabach-Krieg“ 1992-1994 mündete und 50.000 Todesopfer und 1 Millionen Flüchtlinge hervorgebracht hatte. Als Sieger ging sozusagen Armenien hervor, das sowohl Berg-Karabach als auch sieben Provinzen um Berg-Karabach herum als „Schutzgürtel“ eingenommen hatte. 
Unter der Ägide der OSZE Minsk Gruppe, mit dem Co-Vorsitz Russlands, der USA und Frankreichs, liefen seither die Friedensverhandlungen. Jedoch erwiesen sich die drei Leitlinien von gegenseitiger Anerkennung territorialer und ethnischer Rechte sowie der Gewaltfreiheit als stetige Quadratur des Kreises.
Das von vielen Kriegen und Konflikten geprägte Gebiet. In rot/rosa schraffiert das von Aserbaidschan seit dem 2. Karabach-Krieg eingenommene kernarmenische Staatsgebiet mit hunderten Todesopfern und zehntausenden armenischen Flüchtlingen. Karte: By Rr016 – Own work, CC BY-SA 4.0, 
Die genozidale Armenienpolitik


Aserbaidschan, das am Kaspischen Meer an der Ölquelle sitzt und sich zum boomenden Petrostaat entwickelte, hat in diesen drei Jahrzehnten systematisch eine alles erfassende genozidale Armenienpolitik implementiert, alles gezielt und mit Ansage auf eine militärische Rückeroberung ausgerichtet.
 
Gemeinsam mit dem „Bruderstaat“ Türkei wurde Armenien gezielt ökonomisch ausgeblutet und von der Außenwelt abgeschnitten. Gemeinsam wurde der von allen westlichen Fachgremien anerkannte Völkermord an den Armeniern nicht nur rigide geleugnet, sondern menschenverachtend verhöhnt. Mehr noch, bestimmte nun Aserbaidschan per Präsidentenerlass, dass die Armenier ganze zwei Völkermorde an ihrem Volk begangen hätten. Zudem wurde in Aserbaidschan eine haltlose wissenschaftliche historische Theorie (Albania-Theorie) implementiert, die den Armeniern nicht nur ihre Identität im Südkaukasus abspricht, sondern sie auch der Fälschung und des Betrugs bei der Übernahme des dortigen Kulturerbes bezichtigt. Des Weiteren wird darin das heutige Armenien als eigenes aserbaidschanisches historisches Land und sogar als „Westaserbaidschan“ bezeichnet und eine Rückbesiedelung anstrebt.

Alle diese Gedanken wurde dem gesamten Bildungswesen aufoktroyiert und so lernte jedes aserbaidschanische Kind von früh an die Armenier als Barbaren, Faschisten und grausame Mörder an ihrem Volk kennen. Gleichzeitig diente diese Feindbildimplementierung immer zur Festigung der autokratischen Familien-Dynastie.


Die Jugend protestiert FÜR den Krieg

Nach knapp dreißig Jahren war alles bereit für die Rückeroberung – gestärkt durch  Massenproteste der Jugend für den Krieg. Nach zahlreichen Militärmanövern mit dem Bruder- und NATO-Staat Türkei, durch milliardenschwere modernste Waffenlieferungen vor allem aus Israel, Russland und der Türkei sowie mit Putins „OK“ und nicht zuletzt im Schatten der Corona-Krise, konnte der aserbaidschanische Präsident am 27. September 2020 zum Schlachtruf des „Vaterländischen Kriegs“, des „Zweiten Karabach-Kriegs“, blasen: „Wir werden die Hunde jagen“.

Und so stürzten sich israelische Kamikaze-Drohnen mit der Aufschrift „Hunde-Jäger“ automatisiert auf Soldaten der kleinen Karabach-Armee. Auf die Menschen, deren Familien Opfer des ersten systematischen Völkermords des 20. Jahrhunderts waren und die jetzt selbst Opfer des ersten modernen Drohnenkriegs des 21. Jahrhunderts wurden.
 
Nachdem der aserbaidschanische Sieg nach 44 Tagen errungen war, kam es mit der totalen Kapitulation Armeniens zu einem Waffenstillstandsabkommen. Übrig geblieben waren noch 70 Prozent des ehemaligen Autonomen Gebiets Berg-Karabach, das sich seit 2017 historisch begründet in Republik Arzach umbenannt hatte. Der freie Verkehr zu Kernarmenien konnte nur noch über die einzige Straßenverbindung im „Latschin-Korridor“ – geschützt durch russische „Friedenstruppen“ – gewährleistet werden.

Das gewaltsame Vorgehen wurde zwar von westlichen demokratischen Gremien „streng gerügt“, doch wurde festgelegt, dass man nun wieder zurück zur Quadratur des Kreises gehen müsse, also zurück zu der zuständigen OSZE Minsk Gruppe. Und das während der türkische Präsident Recep Erdogan und sein innigster Bruder, der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliew von der Ehrentribüne bei der Siegerparade „den Sieg der gesamten türkischen Welt“ feierten und sich freuten, dass die Seele des Hauptverantwortlichen an dem Völkermord an den Armeniern „Enver Pascha jetzt jubilieren“ würde.


Ungestraft und ohne Konsequenzen zum nächsten Großangriff

So ungestraft und ohne Konsequenzen, erfolgte am 12. September 2022 ein weiterer Großangriff Aserbaidschans – diesmal auf international anerkanntes eindeutig armenisches Territorium mit Hunderten Toten, Gebietseinnahmen und Zehntausenden armenischen Flüchtlingen. Und genau drei Monate später die Blockade des Latschin-Korridors. Und nachdem die arme Bergbauernbevölkerung dort nun seit fast einem Jahr terrorisiert wurde, findet seit Tagen aktuell Aliews „Anti-Terror-Operation“ statt, so wie man einen Angriffskrieg seit Putins Wortschöpfung bezeichnet.

Während die internationalen westlichen demokratischen Gremien aus weiter Ferne wieder „beide Seiten“ zur Deeskalation aufrufen und sie zurück zum Verhandlungstisch wünschen, haben die alten regionalen Großmächte, insbesondere Russland und die Türkei, längst nicht nur über das Schicksal ihrer „Bauernopfer“ in Berg-Karabach entschieden, sondern ganz Armenien in „ihre Verhandlungen“ eingebunden.

18. Juli 2021, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyew haben eine Vereinbarung über eine strategische Partnerschaft im Energiebereich unterzeichnet. Drei Tage zuvor drohte Aliyew mehrfach mit Krieg und ließ verlauten: „Ich habe gesagt, dass wir so viel Geld wie nötig für zwei Richtungen bereitstellen werden – die Wiederherstellung der befreiten Gebiete und den Aufbau unseres militärischen Potenzials.“ Bild: Europäische Kommission

Belohnen wir Aserbaidschan weiter für Vertreibung und Krieg?


Am 10. März 2022 stellte das Europäische Parlament in einer offiziellen Erklärung fest, dass „die Auslöschung des armenischen Kulturerbes Teil eines breiter angelegten Musters einer systematischen, landesweit betriebenen und von den Staatsorganen Aserbaidschans geförderten Politik der Armenierfeindlichkeit, des Geschichtsrevisionismus & des Hasses gegenüber Armeniern ist, die Entmenschlichung, Gewaltverherrlichung & Gebietsansprüche gegen die Republik Armenien einschließt, wodurch Frieden und Sicherheit im Südkaukasus bedroht sind.

Und doch hat die EU auch nach dem „44 Tage Krieg“ Ende 2020 weiter Diktator Alijew gewähren lassen und ihn mit Energie- und Rohstoffdeals belohnt.

Mehr Details in unserer Pressemitteilung

Im Heute angekommen

Vorgestern, am Mittwochabend, erklärte Aserbaidschan den Einsatz für beendet, und ließ verlauten, dass das Land eine „Wiedereingliederung“ Bergkarabachs in sein Territorium anstrebe. Derweil wurden in Aserbaidschan Anti-Kriegs-Aktivisten verhaftet, denn in seinem eigenen Land duldet Diktator Ilham Alijew keine Widerworte.

Der aktuelle Präsident Armeniens, Paschinjyan, hat sein Land aus der jahrzehntelangen historisch verankerten Bindung an Russland gelöst und es gibt einige, die das rückgängig machen wollen. Gleichermaßen will die Mehrheit der Armenier in einer freiheitlich westlich geprägten Gesellschaft leben und sucht die Nähe zur EU.

IGFM-Delegation am Völkermord-Denkmal in Yerewan.


Wie geht es jetzt weiter? Werden deutsche und europäische Spitzenpolitiker weiter untätig bleiben und damit die Existenz des eigenständigen Staates Armenien aufs Spiel setzen? 

Berg-Karabach und der Latschin-Korridor sind nur der Beginn der geplanten Landnahme. Auf der Liste steht auch der Sangesur-Korridor. Dieser verkörpert die Verwirklichung des alten pantürkischen Traums von einem türkischen Reich von der Adria bis nach China, es ist nicht zuletzt Erdogans persönlicher Traum.

In Berg-Karabach derweil rechnen die Menschen angesichts des möglichen Einmarschs aserbaidschanischer Soldaten in die Städte mit allem und fürchten um ihr Leben!

Werden Sie aktiv: Mahnwache morgen vor Bundeskanzleramt

An dieser Stelle möchten wir Sie daher auf die Mahnwache in Berlin an diesem Samstag23. September hinweisen: 12:00-15:00 Uhr, vor dem Bundeskanzleramt.

Es wäre schön, wenn viele von Ihnen es vors Kanzleramt schaffen, um sich für die von ethnischer Säuberung bedrohten Bewohner von Berg-Karabach einzusetzen. Wir werden auch mitwirken. 

Derzeit arbeiten wir an einer ausführlichen historischen Dokumentation über das seit Jahrhunderten von Armeniern besiedelte Gebiet und werden dieses hoffentlich bald Ihnen zur Verfügung stellen können.


Wir bedanken uns für Ihr Interesse an diesem Sonder-Newsletter

Das IGFM-Team

Aktuelle Pressemitteilungen der IGFM

804, 2024

Öffentlichkeit bedeutet Schutz: Abgeordnete setzen sich für Menschenrechte ein

Anlässlich des Tages der politischen Patenschaften macht die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) auf das Schicksal zehntausender politischer Gefangener weltweit aufmerksam. Seit 2011 hat die IGFM bereits über 300 politische Patenschaften initiiert. Abgeordnete setzen sich für die Freilassung der politischen Gefangenen ein. Bei etwa der Hälfte der Fälle ist eine Verbesserung für die Lage der Inhaftierten eingetreten.

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