Frauen unter der Scharia

Formlos und verhüllt. Zwei Frauen in Herat beim Sortieren von Pistazien. In Afghanistan wird das islamische Rechtssystem – die Scharia – überwiegend sehr konservativ angewendet. Bild: UN Photo/Eric Kanalstein

Kurzer Überblick:

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Die Scharia, so wie sie heute aufgefasst wird, wurzelt in der Regelung einiger Rechtsfragen einer arabischen Stammesgesellschaft des 7. und 8. Jahrhunderts, die durch Theologen und Juristen bis zum 10. Jahrhundert normativ ausgelegt wurden und schließlich in etablierten Rechtsschulen mündeten. Die Forderung einer Fortentwicklung des islamischen Rechts durch selbstständige Rechtsfindung bestand, ist jedoch nie allgemeingültig anerkannt und durchgesetzt worden. Lediglich unter Vorgabe der Auslegung des unantastbaren göttlichen Rechts ist man dieser Forderung über die Jahre hinweg in gewissem Rahmen nachgekommen.

Die muslimische Apologetik zum Rollenverständnis von Mann und Frau steht unter dem Grundsatz, dass nur die Scharia Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und der Frau wahre Würde und Ehre verleihen kann. Die Gleichberechtigung der Geschlechter geht nach dieser Ansicht aus dem koranischen Schöpfungsbericht (Sure 39,6; 49, 13) und der Verpflichtung von Mann und Frau zur Erfüllung der Gebote des Islam, in der die Frau dem Mann in nichts nachstehe, hervor. Männer und Frauen seien „aus einem einzigen Wesen“ erschaffen worden (Sure 4, 1) einander zu „Beschützern“ oder „Freunden“ (Sure 9,72) und beiden werde gleichermaßen das Paradies verheißen, wenn sie „Gott demütig ergeben“ seien (Sure 33, 35) und „glauben und das Rechte tun“ (Sure 16,97).
An anderer Stelle begründet der Koran und dessen islamische Überlieferung eine eindeutige Überordnung des Mannes über die Frau und ihre rechtliche Benachteiligung. In Sure 4, 34 steht geschrieben, dass „Männer über Frauen stehen, weil Gott sie vor diesen ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben.“ Verse wie dieser werden von muslimischen Theologen in aller Regel so ausgelegt, dass Männer und Frauen als Menschen nicht denselben Wert haben. Aus Sure 4, 34 lassen sich außerdem zwei Grundkomponenten des islamischen Eherechts ableiten: Die Überordnung des Mannes über die Frau, weil Gott den Mann über die Frau gestellt hat (Sure 2, 228) und der Mann „Ausgaben“ für die Frau hat (Sure 4, 34). Mit „Ausgaben“ sind nach weitgehend übereinstimmender Auffassung das Unterhaltsrecht der Frau und die Pflicht des Mannes, finanziell für die Frau zu sorgen, gemeint. „Gehorsam“ oder „demütig ergeben“ versteht man in erster Linie im sexuellen Kontext, denn der Mann erwirbt mit Abschluss des Ehevertrages und Aufnahme der Unterhaltszahlungen gleichzeitig das Recht auf den Körper seiner Frau (vgl. Sure 2, 223; 2, 187).

Geschlechtertrennung

In der islamischen Welt ist die Trennung der Geschlechter in der Moschee, der Öffentlichkeit und teilweise sogar in der Familie anerkanntes Mittel zur Vermeidung von Unmoral. Die Geschlechtertrennung gilt als Voraussetzung für die Wahrung von Anstand und Moral. Das zeigt auch die rechtliche Beurteilung: Wenn ein Mann und eine nicht mit ihm verwandte Frau sich in einem „wirksamen Zustand der Zurückgezogenheit“ („halwa“) befanden, geht es, aus rechtlicher Sicht, für eine Verurteilung, insbesondere der Frau, nicht darum, ob eine als unmoralisch betrachtete Handlung stattgefunden hat, sondern darum, ob durch das Alleinsein die Gelegenheit dazu bestanden hat.
Die Geschlechtersegregation beginnt früh mit einer geschlechtsspezifischen Erziehung, die Mädchen generell zu Hause hält und auf die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter vorbereitet. Ganz im Gegensatz dazu werden Jungen auf die Berufswelt, die „Welt der Männer“ und der Moschee hin erzogen.
Nur durch nahe Verwandtschaft kann die Geschlechtersegregation in gewissem Maße aufgehoben werden: Ein Mann, der eine Frau wegen der Nähe der Verwandtschaft nicht heiraten darf, ihr Vater, Bruder oder Schwager beispielsweise, darf sich mit ihr alleine in einem Raum aufhalten, sie unverschleiert sehen oder sie auf einer Reise begleiten.

Das Gebot der Geschlechtertrennung schränkt die Frau in vielen Fällen ein und verhindert vor allem oft den Zugang von Frauen zu Bildung. Die Tatsache, dass eine „wirksame Zurückgezogenheit“ („halwa“) im Umkehrschluss den Tatbestand des Ehebruchs bzw. der Unzucht erfüllt, macht den Bildungssektor für Frauen nur unter bestimmten Bedingungen zugänglich. Da diese meist aus finanziellen oder logistischen Gründen nicht erfüllt werden können, wird Frauen der Zugang zu Bildung jeglicher Art oft ganz verboten.

Wenn man von differierenden Aussagen einzelner Rechtsschulen absieht, sind die Schariabestimmungen zum Thema Ehe und Familie für alle islamischen Länder theoretisch einheitlich. In der Praxis werden diese in den jeweiligen Ländern jedoch sehr unterschiedlich aufgefasst und haben deshalb auch unterschiedliche Auswirkungen auf die rechtlich-gesellschaftliche Situation. Die Beschränkung der Frauenrechte in islamischen Ländern ist nicht einzig und allein auf das Thema Religion zurückzuführen. Tief verwurzelte kulturelle Traditionen, dennoch eng verbunden mit religiösen Werten, machen es Frauen im Islam schwer, unter verschiedenen Lebensperspektiven ihren beruflichen wie privaten Alltag frei zu wählen. Nicht selten macht sich dort, wo der Islam theoretisch Freiräume gewährt, deren Einforderung in der gesellschaftlichen Realität unmöglich. Dazu kommen die vor Ort gelebten kulturellen Normen, die teilweise im Islam verwurzelt sind aber auch als vorislamische kulturelle Werte vom Islam verstanden werden und mittlerweile untrennbar von ihm sind. Eine weitere Rolle spielt der Grad der Frömmigkeit einzelner Familien und die Herkunft der Familie. Ein städtisches, wohlhabendes Familienumfeld verspricht einer Frau im Hinblick auf Bildung und Fortschritt meist bessere Entfaltungs- und Bewegungsmöglichkeiten als ein ländliches, traditionelles und ökonomisch schwächeres Umfeld. Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen wird in aller Regel Familien- und Gesellschaftsinteressen nachgeordnet. Im gebildeten iranischen Bürgertum steht das traditionelle, islamische Familienbild jedoch stark in der Debatte. Viele Iraner und vor allem Iranerinnen sehnen sich nach Freiheit und einem Ende der Bevormundung durch islamische Geistliche und ihre Milizen.

Theoretisch soll ein Mann laut Koran und Überlieferung bei einem Kapitalverbrechen mit demselben Strafmaß bestraft werden wie die beteiligte Frau (Sure 24,3). In der Praxis werden Vergehen wie Unzucht und Ehebruch jedoch fast ausschließlich Frauen zur Last gelegt, wobei das jeweilige Vergehen in den allermeisten Fällen nicht öffentlich vor Gericht, sondern von der Familie geahndet wird. In der islamischen Gesellschaft wird die Frau im Allgemeinen als Verführerin des Mannes betrachtet, deren Einfluss er quasi hilflos ausgeliert ist. Durch ihre Anwesenheit übt die Frau mit ihren Reizen Wirkung auf den Mann aus, wodurch der „rational orientierte und intellektuell überlegene Mann seine Selbstkontrolle verliert und der intellektuell schwächeren, emotional labileren Frau erliegt“. Dabei gilt insbesondere das unbedeckte offen getragene weibliche Haar als unwiderstehlicher sexueller Reiz. Viele Theologen beurteilen die Frau als ein Wesen mit im Vergleich zum Mann wesentlich größerer sexueller Gier, deren unmoralische Absichten kontrolliert und in Schranken gewiesen werden müssen, um die gesellschaftliche Ordnung zu wahren.

Auf dem Gebiet des Zeugenrechts legt der Koran in Sure 2, 282 fest, dass die Zeugenaussage einer Frau nur die Hälfte der Aussage eines Mannes gilt. Die muslimische Apologetik sagt, dass eine Frau schon von Natur aus während der Menstruation, während der Schwangerschaft, nach einer Geburt im Wochenbett oder auch nach einem Trauerfall gefühlsmäßig außer Kontrolle sei und keine sachlich verlässlichen Angaben machen könne. Sie könne ein Geheimnis schwerer bewahren und dem Mann in schwierigen intellektuellen Fragestellungen nicht gleichziehen. Die überlegene Rationalität und Unbestechlichkeit des Mannes werden im nahöstlich-islamischen Bereich als bewiesene naturwissenschaftliche Gesetze referiert. Diese Rationalität und Unbestechlichkeit seien insbesondere für Gerichtsprozesse erforderlich. Nicht wenige Gelehrte verlangen, dass Frauen in Strafrechtsprozessen überhaupt nicht aussagen dürfen, andere verwehren ihr das Aussagerecht bei Kapitalverbrechen („hadd-Verbrechen“)

Das islamische Erbrecht ist kompliziert, die Summe der Bestimmungen lautet jedoch, dass ein weibliches Familienmitglied stets die Hälfte von dem erbt, was ein männliches Familienmitglied an ihrer Stelle erben würde. Die muslimische Apologetik verteidigt das Erbrecht mit dem Argument, dass ein männliches Familienmitglied stets für Familienmitglieder aufkommen muss bzw. in der Zukunft für sie aufkommen wird. Eine Frau dagegen, unabhängig davon ob sie ledig oder verheiratet ist, bleibt immer unterhaltsberechtigt. Stirbt die Ehefrau ohne Erbberechtigte hinterlassen zu haben, erbt ihr Ehemann ihren ganzen Besitz. Stirbt der Ehemann und hinterlässt keine erbberechtigten Nachkommen, erbt die Frau nur die Hälfte, die andere Hälft geht in die öffentliche Hand über. Die wenigsten Veränderungen und Abweichungen im Erbrecht haben sich von den ursprünglichen Bestimmungen der Scharia ergeben. Da in den meisten islamischen Ländern nur ein sehr eingeschränkt funktionierendes bzw. nur ein rudimentäres Sozialsystem vorhanden ist, ist die Familiensorge für Alte und Arbeitslose, dauerhaft Erkrankte und Geschiedene, Verwitwete und Arbeitsunfähige unabdingbar.

Strafrecht und Familienrecht im Islam

von Prof. Dr. Christine Schirrmacher

Eigentlich könnte man doch annehmen, dass sich die islamische und die westliche Welt durch die Migration einer großen Anzahl von Muslimen, durch die mediale Vernetzung sowie durch die voranschreitende Globalisierung heute viel näher gekommen sind als je zuvor in der Geschichte und daher auch viel Wissen über „den anderen“ besitzen. Bei Themen allerdings wie der Menschenrechts- oder Frauenfrage wird immer deutlicher, wieviel Verständnislosigkeit und Nichtwissen den Diskurs immer noch prägen und wie wenig die Grundlagen des jeweils anderen Rechts- und Kulturverständnisses bekannt sind. Konkret bedeutet das im Westen weithin fehlendes Wissen über den Islam, z. B. über das islamische Strafrecht und seine Kategorisierung der Verbrechen oder das geforderte Beweisverfahren. Wenig Wissen existiert aber auch über das spezifisch islamische Menschenrechtsverständnis mit seiner Überordnung der Scharia über alle von Menschen geforderten Rechte. Gering zu nennen ist auch die westliche Kenntnis der rechtlichen Stellung der Frau im Islam, die in viel geringerem Maß durch eine individuelle Lebensgestaltung und in viel größerem Maße von den schariarechtlichen Vorgaben zum Eherecht geprägt ist, als das im Westen vielen vorstellbar erscheint.

Das Ehe- und Familienrecht gilt als Kern des islamischen Gesetzes, der Scharia. Mit wenigen Ausnahmen ist die Scharia heute in allen islamischen Ländern, aber auch in Teilen von Afrika und Südostasien, eine wesentliche oder sogar die einzige Grundlage des Personenstandsrechts und damit der Rechtsprechung in Zivilprozessen. Eine säkulare, von religiösen Normen abgekoppelte Rechtsprechung in Ehe- und Familienangelegenheiten existiert also in der islamischen Welt weithin nicht. Einzig die Türkei schaffte die Scharia im Zuge der Gründung der Türkischen Republik als Gesetzesgrundlage ab und richtete die Ehe- und Familiengesetzgebung 1926 am Schweizerischen Zivilgesetzbuch aus. Das schließt nicht aus, dass vor allem im ländlichen Bereich gewisse Parallelstrukturen bestehen blieben und die nach türkischem Recht prinzipiell verbotene Mehrehe als „Imamehe“ de facto bis heute geschlossen wird. In den übrigen Teilen der islamischen Welt wird die ungebrochene Gültigkeit der Schariagebote insbesondere in der Ehe- und Familiengesetzgebung weder von maßgeblichen theologischen Autoritäten noch von der Bevölkerung grundsätzlich in Frage gestellt. Aufgrund der Tatsache, dass in den islamischen Kernländern keine Aufklärung im europäischen Sinn stattgefunden hat und keine von religiösen oder staatlichen Lehrinstitutionen formulierte Religionskritik existiert, werden im Hinblick auf die Scharia im wesentlichen Auslegungsfragen diskutiert, aber nicht die Gültigkeit dieses nach muslimischer Auffassung ewigen, göttlichen Gesetzes an sich hinterfragt. Im Gegenteil, in der Gegenwart, in der in vielen Ländern eine voranschreitende Islamisierung zu beobachten ist, werden bestehende Gesetze wieder vermehrt an der Scharia ausgerichtet.

Zwar haben einzelne Länder in den vergangenen Jahrzehnten Gesetzesmodifikationen vorgenommen und damit eine gewisse Verbesserung der rechtlichen Situation der Frau erreicht. Gleichzeitig werden die mit Rücksicht auf die Schariabestimmungen eingeleiteten Reformen so lange nur sehr begrenzt wirksam bleiben, wie der sakrosankte Charakter der Scharia nicht hinterfragt wird. Bei gleichzeitiger Beurteilung der Scharia als einziges System auf Erden, das Mann und Frau Freiheit, Gerechtigkeit und Würde schenkt, orientieren sich auch diejenigen Staaten an den entsprechenden Koran- und Überlieferungstexten sowie deren Auslegung durch maßgebliche Theologen, die Abstriche an ihrer „strengen“ Auslegung machen. Obwohl das Ehe- und Familienrecht den Bewegungs- und Entscheidungsspielraum für Frauen z.T. sehr eng definiert, gestaltet sich ihre Situation in den einzelnen Ländern durchaus unterschiedlich. Einige Länder haben die Position der Frau vor allem im Scheidungs- und Kindschaftssorgerecht in den letzten Jahren verbessert und das Mindestheiratsalter hinaufgesetzt. Andere Länder – insbesondere auf der Arabischen Halbinsel – verfügen noch über kein kodifiziertes Familiengesetzbuch, sodass für Frauen eine gerichtliche Klage in Ehe- und Familienangelegenheiten fast aussichtslos sein dürfte.

Bei der Begründung für die Beschränkung der Frauenrechte in islamischen Ländern geht es jedoch nicht nur um das Thema Religion. Auch tief verwurzelte kulturelle Traditionen, eng verflochten mit religiösen Werten, machen es Frauen schwer, unter verschiedenen Lebensperspektiven für ihren beruflichen wie privaten Alltag frei zu wählen. So macht nicht selten dort, wo der Islam theoretisch Freiräume gewährt, die gesellschaftliche Realität deren Einforderung unmöglich: Zwar empfiehlt die islamische Überlieferung Männern wie Frauen den Erwerb von Wissen und Bildung, aber die allgemein anerkannten nahöstlichen Vorstellungen von ehrbarem Verhalten für Frauen verwehren in der Praxis den höheren Schul- oder Universitätsbesuch, sofern z. B. mit dem Unterricht lange Wege oder der intensive Kontakt zu nichtverwandten männlichen Lehrern, Dozenten oder Mitstudenten verbunden ist, der als unehrenhaft beurteilt wird. Das kulturell-religiös begründete Prinzip der Geschlechtersegregation und die unbedingte Notwendigkeit zur Wahrung des guten Rufes für die junge Frau wiegen nach Auffassung vieler Familien weitaus schwerer als der Nutzen des Bildungserwerbs. Zudem wird das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen in aller Regel Familien- und Gesellschaftsinteressen nachgeordnet. Dennoch haben sich die Bildungs- und Berufschancen für Frauen in islamischen Ländern in den letzten Jahrzehnten verbessert, allerdings vor allem im städtischen Bereich.

Während nach westlicher Auffassung die Unterdrückung der Frau im Islam vor allen Dingen an Äußerlichkeiten wie dem Kopftuch festgemacht wird, finden die wirklichen Benachteiligungen an ganz anderer Stelle statt: Während das Kopftuch nach überwiegender Meinung weder einen Universitätsbesuch noch eine Berufstätigkeit verbietet und gerade junge Musliminnen mit Kopftuch nicht selten sehr gebildete und selbstbewusste Advokatinnen ihres Glaubens sind, finden die eigentlichen Benachteiligungen muslimischer Frauen im rechtlichen Bereich statt. Zwar haben in den letzten Jahrzehnten etliche islamische Länder gesetzliche Veränderungen im Familienrecht vorgenommen, die eine Besserstellung der Frau bewirken. So geht die Tendenz vielerorts zu einer Heraufsetzung des Mindestheiratsalters (anstelle der früher weitverbreiteten Verheiratung der Tochter mit Eintritt der Pubertät) sowie zu der vermehrten staatlichen Registrierung der Eheschließung (anstelle des herkömmlichen, nicht öffentlichen Vertragsschlusses zwischen zwei Familien). Die Tendenz geht auch zu einer Beschränkung der Polygamie durch die Erfordernis einer richterlichen Genehmigung einer Zweitehe (anstelle der zuvor dem Einzelnen überlassenen zweiten oder dritten Eheschließung) und zur Auflage eines Versöhnungsversuches vor der Gewährung der gerichtlichen Scheidung (anstelle des traditionellen Scheidungsverfahrens, des formlosen dreimaligen Aussprechens der Scheidungsformel „Ich verstoße dich“ durch den Ehemann).

Auch die Erweiterung der gerichtlich anerkannten Scheidungsgründe bei Klageerhebung durch die Frau (anstelle der nach traditioneller Auffassung für die Frau kaum möglichen Scheidung) ist in vielen Ländern auszumachen sowie eine prinzipielle Verbesserung der Kindschaftssorgeregelung, die die Mutter nach einer Scheidung nicht mehr grundsätzlich von der Erziehung und dem Kontakt zu ihren Kindern ausschließt (anstelle der alleinigen Wahrnehmung der Erziehung durch den Vater ab dem Alter von sieben Jahren für Jungen bzw. neun Jahren für Mädchen). In anderen islamischen Staaten ist aber auch eine umgekehrte Entwicklung zu beobachten: In der Rückbesinnung auf den Islam und seine Rechtsprinzipien wird eine „Reinigung“ der Gesetzgebung von europäischen Rechtselementen aus der Kolonialvergangenheit sowie die vermeintlich „vollständige Einführung der Scharia“ proklamiert. In den letzten Jahren sind in Ländern wie Nigeria, dem Iran oder dem Sudan Schauprozesse – insbesondere wegen Ehebruchs – als öffentliche Demonstration der Wiedereinführung der Scharia geführt worden. Selbstverständlich spielen hier nicht nur religiöse, sondern auch vielschichtige gesellschaftliche wie politische Gründe eine Rolle. Nicht immer ging es offensichtlich darum, einen schariakonformen Prozess zu führen – der z. B. den männlichen Teil hätte ebenso schuldig sprechen müssen wie den weiblichen – sondern eher darum, an einer Angehörigen einer rechtlosen Minderheit oder unterprivilegierten Schicht vor der Weltöffentlichkeit ein Exempel zu statuieren.

Was meint der Begriff „Scharia“?

Die islamische Theologie betrachtet die Scharia als vollkommene Ordnung göttlicher Autorität, die jeder Gesellschaft Frieden bringt, von Gott selbst geschaffen und deshalb nicht veränderbar. Kritik der Scharia bedeutet, menschliche Erwägungen über Gottes Gesetz zu stellen, das doch – als Endziel der islamischen Da’wah (der Einladung zum Islam) – über alle Menschen der Erde aufgerichtet werden soll. Die Scharia steht für das Gesetz Gottes, so wie es im Koran und der islamischen Überlieferung niedergelegt und von maßgeblichen Theologen interpretiert wird. Die Scharia regelt gleichermaßen die „vertikalen“ wie „horizontalen“ Beziehungen jedes Menschen: sie gibt Anweisungen für das Verhalten in Familie und Gesellschaft (dazu gehört das Ehe- wie das Strafrecht), aber sie reglementiert auch die Gottesverehrung (vor allem die Praktizierung der „Fünf Säulen“ Bekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Wallfahrt).

Der Ablauf des täglichen rituellen Gebets ist also ebensowenig in das Belieben des Einzelnen gestellt wie die Klauseln eines Ehevertrags. Aufgrund der Durchdringung aller Lebensbereiche mit den Geboten der Scharia gibt es aus muslimischer Sicht keinen „säkularen“, von der Religion abgetrennten Bereich, sondern nur eine Vielzahl detaillierter Empfehlungen und Vorschriften zum Leben im Diesseits zur Vorbereitung auf das Paradies im Jenseits. Trotz dieses Generalanspruchs der Scharia, alle Lebensbereiche eines Menschen regeln zu wollen, handelt es sich dabei nicht um ein kodifiziertes Gesetzbuch, das etwa mit dem „Bürgerlichen Gesetzbuch“ vergleichbar wäre. Die Scharia ist gleichermaßen konkret wie interpretierbar, ebenso erstarrt wie flexibel. Konkret in dem Sinne, dass insbesondere gesetzliche Regelungen zum Ehe- und Familienrecht schon im Koran und der Überlieferung recht eindeutig definiert und von maßgeblichen Theologen und Juristen der Frühzeit des Islam wegweisend ausgelegt wurden. Interpretierbar bleibt die Scharia jedoch gleichzeitig dadurch, dass sie nur durch Auslegung und Anwendung konkret umzusetzen ist und daher Spielraum für eine gewisse Bandbreite an Auffassungen bietet, solange diese mit der Scharia selbst begründet werden. Die Scharia ist zu keiner Zeit und an keinem Ort je vollständig zur Anwendung gekommen. Sie ist also immer ein idealtypisches Gesetz geblieben, ja, es stellt sich die Frage, ob sie in einer Gesellschaft – und umso mehr gilt dies für das 21. Jahrhundert – überhaupt in ihrer Gesamtheit umsetzbar wäre. Das wird schon anhand der offensichtlichen Schwierigkeiten deutlich, die Scharia zu kodifizieren.

Quellen der Scharia: Koran, Überlieferung, Theologie

Die Bestimmungen der Scharia basieren auf drei Quellen: dem Koran, der Überlieferung sowie deren normativer Auslegung durch frühislamische Juristen und Theologen, die in Einzelfragen differieren und in die Bildung von vier sunnitischen und mindestens einer schiitischen „Rechtsschule“ mündeten. Während der Koran, die erste Quelle der Scharia, zu einigen Teilbereichen wie dem Vermögens- oder Kapitalrecht nur vergleichsweise dürftige Angaben macht, nimmt er zu anderen Themen – insbesondere zum Ehe- und Familienrecht – weitaus häufiger und konkreter Stellung – davon unberührt bleibt die Spannbreite an Interpretationen.

Außer dem Koran behandelt die Überlieferung, der „hadith“ (arab. Überlieferung, Tradition, Bericht), die zweite Quelle der Scharia, Berichte über Muhammad und seine Prophetengefährten – neben Detailanweisungen zur Religionsausübung auch eine Reihe von Rechtsfragen. Während muslimische Gläubige im nichtrechtlichen Bereich der Überlieferung lediglich aufgefordert sind, Muhammads „Gewohnheit“ (arab. „sunna“) soweit wie möglich nachzuahmen, ist die Befolgung der rechtlichen Bestimmungen der Überlieferung unbedingte Pflicht. Wenn also die Überlieferung berichtet, Muhammad habe einen Bart getragen, dann gilt es als „sunna“ (nachzuahmende Gewohnheit) für männliche Muslime, ebenfalls einen Bart zu tragen, um Muhammads Vorbild nachzueifern, denn man zeigt damit seine „Liebe zum Propheten“1. Wer es aber nicht tut, macht sich keiner Straftat und keiner Sünde schuldig. Anders jedoch bei Rechtsfragen: Wo die Überlieferung Detailanweisungen zum Ehe- und Familiengesetz gibt (dass der Rechtsvertreter gemeinsamer Kinder z. B. immer der Vater sein muss oder Ehebrecher gesteinigt werden sollen), sind diese verbindlicher Natur. Weil die Überlieferung berichtet, dass Muhammad Abtrünnige vom Islam zum Tod verurteilte (der Koran selbst enthält keinen derartigen Bericht), ist die Forderung der Scharia nach der Todesstrafe für Abgefallene unter Theologen weitestgehend unstrittig wobei in der Praxis Apostasiefälle allerdings nur selten vor Gericht kommen. Wer den gesetzlichen Regelungen der Überlieferung nicht Folge leistet, begeht sowohl eine Sünde als auch eine Straftat (z. B. indem er zwei Schwestern heiratet und damit eine nach der Scharia verbotene Eheschließung vollzieht). Wenn also der Koran nach überwiegender Auffassung die Polygamie ebenso gestattet (Sure 4,3) wie die Züchtigung der Ehefrau (4,34), dann gelten diese Aussagen als göttliche Anweisungen von ewiger Gültigkeit, die nach Auffassung einer zunehmenden Anzahl von Muslimen ihren Niederschlag in der heutigen Gesetzgebung muslimischer Länder finden sollten. Auch, da der Koran festlegt, dass erst die gleichlautenden Zeugenaussagen zweier Frauen die Aussage eines Mannes aufwiegt (Sure 2,282), wurde dieses Prinzip in den Gesetzeskodifikationen einiger islamischer Länder festgehalten und vor Gericht in die Praxis umgesetzt. (Bei Strafrechtsprozessen sollten Frauen nach überwiegender Meinung muslimischer Juristen überhaupt nicht aussagen dürfen, da Frauen für Entscheidungen, die u. U. über Leben und Tod des Angeklagten entscheiden, generell ungeeignet seien.)

Koran und Überlieferung werden in ihren knappen Anweisungen jedoch erst durch die Auslegungen muslimischer Theologen anwendbar. Dieser Auslegung ist jedoch nicht Tür und Tor geöffnet. In erster Linie gelten hier die Abhandlungen maßgeblicher Theologen und Juristen aus frühislamischer Zeit als wegweisend bis in die Moderne. Durch die rasch voranschreitenden, weitläufigen Eroberungen der ersten Jahrzehnte nach Muhammads Tod entstand schon sehr bald die Notwendigkeit, in den neueroberten islamischen Gebieten ein Rechtssystem zu etablieren und viele konkrete Fragen des Ehe- und Familienrechts anhand der Vorgaben des Korans und der Überlieferung zu lösen. Aus Gelehrtenzirkeln der ersten Jahrzehnte entstanden „Rechtsschulen“2 (Auslegungstraditionen), von denen sich im sunnitischen Islam bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. vier Schulen (Hanafiten, Hanbaliten, Schafiiten, Malikiten) dauerhaft durchsetzen konnten. Die Auffassungen dieser vier Rechtsschulen unterscheiden sich in manchen Rechtsfragen, ganz abgesehen von den Unterschieden, die sich in der Beurteilung rechtlicher Fragen zwischen sunnitischen und schiitischen Gelehrten3 ergeben. Da die Interpretation der rechtlichen Anweisungen aus Koran und Scharia und ihre Umsetzung in konkrete gesetzliche Bestimmungen z. T. erheblich differieren, existiert keine einheitliche, in Rechtstexte gegossene „Scharia“. Es existiert ein gewisser Grundkorpus an Gesetzen, die aus den Texten des Korans und der Überlieferung abgeleitet werden, sowie eine Reihe unterschiedlicher Auslegungen mehrerer Rechtsschulen und die daraus in den einzelnen Ländern gezogenen, sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die konkrete Gesetzgebung vor Ort.

Trotz der fehlenden Kodifikation der Scharia und einer gewissen Bandbreite an Auslegungen ist die Scharia jedoch auf der anderen Seite keine verschwommene Größe, ein nicht fassbarer Korpus unklarer Vorschriften, in den man alles hinein interpretieren könnte. Gerade im Ehe-, Familien- und auch im Strafrecht enthalten Koran und Überlieferung vergleichsweise eindeutig formulierte Anweisungen, die die Auslegungsmöglichkeiten eingrenzen. Die Theologie der islamischen Frühzeit hat diese Ausführungen in umfangreichen Kommentaren systematisiert, sodass die traditionelle Theologie in wesentlichen Rechtsfragen diesen Auslegungen als richtungsweisende Vorgaben folgen kann. Dadurch, dass die Scharia nie in konkrete Gesetze gegossen wurde und sich ihre Einzelausführungen zu vielen Fragen nur in den Werken frühislamischer Juristen finden, ist die Scharia als solche für den Laien nicht zugänglich. Er benötigt den arabischkundigen Spezialisten (den Juristen, Richter oder Mufti, den „Rechtsgutachtenerteiler“), der ihm zu einer konkreten Sachfrage die Auffassung der Scharia nach den Normen seiner Rechtsschule übermitteln kann.

Die Scharia – Utopie oder praktikables Rechtssystem?

Im Mittelpunkt der Scharia steht das Ehe- und Familienrecht. Zu diesem Bereich finden sich im Koran und in der Überlieferung die meisten und detailliertesten Aussagen – dies sicher ein Spiegel konkreter Rechtsfälle, die an Muhammad und nach seinem Tod an seine Nachfolger herangetragen wurden. Aus diesem Grund ist der Einfluss normativer religiöser Texte auf das gesellschaftliche Leben und damit auf den Bereich der Ehe und Familie groß. Bis ins 19. Jahrhundert kannten die islamischen Länder keine Gesetzeskodifikationen. Das osmanische Familiengesetzbuch vom 25.10.1917 war das erste auf der Scharia gründende Gesetzbuch zum Familienrecht der islamischen Welt4. Die meisten anderen islamischen Länder schufen erst im Laufe des 20. Jahrhunderts Gesetzeskodifikationen5.

Die Scharia, so wie sie heute aufgefasst wird, wurzelt in der Regelung einiger Rechtsfragen einer arabischen Stammesgesellschaft des 7. und 8. Jahrhunderts, die durch Theologen und Juristen bis zum 10. Jahrhundert normativ ausgelegt wurden und in der Etablierung von Rechtsschulen mündeten. Eine Fortentwicklung des islamischen Rechts durch selbständige Rechtsfindung (arab. ijtihad) ist zwar häufig gefordert worden, jedoch nie allgemeingültig und anerkannt durchgesetzt worden; in gewissem Rahmen jedoch zu allen Zeiten unter Vorgabe der Auslegung des unantastbaren göttlichen Rechts vollzogen worden.

Daher ist dort, wo heute einzelne Staaten – wie Sudan (1983), Iran (1979/1982-3), Pakistan (1979) oder Teile Nigerias (ab 2000), Jemen und Libyen (jeweils 1994) – eine „Rückkehr zur Scharia“ verkündeten, vor allem eine verschärfte Ausrichtung am koranischen Ehe- und Familienrecht gemeint. Eine „Reinform“ der Scharia existiert nirgends. In den meisten islamischen Ländern kommt daher heute ein Konglomerat zur Anwendung aus koranischen Geboten, Elementen der islamischen Überlieferung, dem arabischen Gewohnheitsrecht (das zu Teilen im Koran aufgegriffen wird), vorislamischen persischen, römischen oder sassanidischen Rechtselementen6, sowie Elementen europäischer Rechtskodifikationen, die insbesondere während der Kolonialzeit in die islamische Welt Eingang fanden. Es besteht also kein Zweifel daran, dass zur Frühzeit des Islam keine lückenlose, alle Rechtsbereiche umfassende „Scharia“ existierte. Die Scharia entwickelte sich in ihren Anfängen aus der konkreten Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen zu Lebzeiten Muhammads, der in seinen letzten Lebensjahren in Medina 622-632 n. Chr. nicht nur religiöser Führer seiner Gemeinde war, sondern auch Militärführer und Richter. Fortgeführt wurde dieses rudimentäre Rechtssystem in der islamischen Überlieferung und in den normativen Auslegungen islamischer Juristen erläutert und angewandt.

Das Zentrum der Scharia: Das Ehe und Familienrecht

Zwar ist in der Theorie der Korpus an Schariabestimmungen zum Thema Ehe und Familie für alle islamischen Länder relativ einheitlich – abzüglich differierender Auffassungen der einzelnen Rechtsschulen – in der Praxis werden diese Schariabestimmungen jedoch von Land zu Land sehr unterschiedlich gehandhabt und haben daher auf die rechtlich-gesellschaftliche Situation muslimischer Frauen sehr unterschiedliche Auswirkungen. Dazu kommen die vor Ort gelebten kulturellen Normen, die teilweise im Islam wurzeln, teilweise als vorislamische kulturelle Werte vom Islam aufgegriffen wurden und nun untrennbar mit ihm verwoben sind. Auch der Grad der Frömmigkeit einzelner Familien ist von großer Bedeutung, sowie die Frage, ob eine Frau und ihre Angehörigen im ländlichen oder städtischen Bereich leben. Ein städtisches, günstigstenfalls wohlhabendes, Bildung und Fortschritt gegenüber aufgeschlossenes Familienumfeld bietet einer Frau ganz andere Entfaltungs- und Bewegungsmöglichkeiten als ein ländliches, traditionelles, ökonomisch wenig entwickeltes Umfeld, das einer Frau häufig keine Wahlmög-lichkeiten in Bezug auf ihre Heirat oder Berufstätigkeit lässt.

Gleichberechtigung oder Gehorsam?

Über der muslimischen Apologetik zum Rollenverständnis von Mann und Frau steht die Prämisse, dass nur die Scharia Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und der Frau wahre Würde und Ehre verleihen kann. Die Gleichberechtigung der Frau gehe – so die muslimische Apologetik – aus dem koranischen Schöpfungsbericht ebenso hervor (Sure 39,6; 49,13) wie aus der Verpflichtung von Mann und Frau zur Erfüllung der Gebote des Islam (vor allem der „Fünf Säulen“), in der die Frau dem Mann in nichts nachstehe. Ja, Männer und Frauen seien „aus einem einzigen Wesen“ erschaffen worden (4,1), einander zu „Beschützern“ oder „Freunden“ (9,72), und beiden werde gleichermaßen das Paradies verheißen, wenn sie „Gott demütig ergeben“ seien (Sure 33,35) und „glauben und das Rechte tun“ (Sure 16,97). Die vorislamische Praxis, neugeborene Mädchen lebendig zu begraben, verurteilt der Koran (17,31). Muhammad habe, so die muslimische Apologetik, die Lage der Frau verbessert und ihr wahre Würde und Ansehen verliehen.

Ungeachtet des Schöpfungsberichtes, der Mann und Frau zunächst unbestritten auf eine Stufe stellt, begründet der Koran an anderer Stelle – und umso mehr die islamische Überlieferung – eine eindeutige Überordnung des Mannes über die Frau und ihre rechtliche Benachteiligung. Als Koranvers von großer rechtlicher wie gesellschaftlicher Tragweite ist hier z. B. Sure 4,34 zu nennen: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie vor diesen ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben (oder: gehorsam)…“. Und ähnlich Sure 2,228: „Die Männer stehen eine Stufe über ihnen.“ Muslimische Theologen kommentieren diese Verse in aller Regel traditionell: „Männer und Frauen haben als Menschen nicht denselben Wert“7. Der berühmte Koranausleger Ibn Kathir erläutert Sure 4,34 mit den Worten: „Männer sind Frauen überlegen, und ein Mann ist besser als eine Frau.“8 Insbesondere aus Sure 4,34 werden zwei Grundkomponenten des islamischen Eherechts abgeleitet, die als Garanten von Gerechtigkeit und Stabilität im Familienleben betrachtet werden: Die Überordnung des Mannes über die Frau, begründet damit, dass Gott den Mann über die Frau gestellt hat (Sure 2,228), sowie damit, dass der Mann „Ausgaben“ für die Frau hat (4,34). Diese „Ausgaben“ beziehen sich nach weitgehend übereinstimmender Auffassung auf die Pflicht des Mannes zum Unterhalt seiner Frau, während sie ihm „demütig ergeben“ oder „gehorsam“ zu sein hat (4,34). Dieser Gehorsam wird in erster Linie auf den Bereich der Sexualität bezogen, denn der Mann erwirbt mit Abschluss des Ehevertrages und Aufnahme der Unterhaltszahlungen das Recht auf den Körper seiner Frau (vgl. Sure 2,223; 2,187)

Unter Bezug auf Sure 4,34 subsumiert z. B. T. Akinola Aguda die gängige Ansicht muslimischer Theologen: „Nach diesem Vers soll eine Ehefrau ihrem Mann immer zur Verfügung stehen, wenn er es wünscht.“9 Die beiden Säulen des islamischen Eherechts lauten also „Unterhalt“ und „(sexueller) Gehorsam“. Mit der Eheschließung erwirbt die Ehefrau nach einhelliger Auffassung der muslimischen Theologie das Recht auf Unterhalt, das sich auf den täglichen Lebensunterhalt (Nahrung, Kleidung, eine angemessene Wohnung) bezieht, nach Meinung der malikitischen Rechtsschule auch auf die medizinische Versorgung der Ehefrau im Krankheitsfall. Wenn also der Ehemann seine Unterhaltspflicht versäumt, erhält seine Frau sozusagen als Folge das Recht zum Ungehorsam: Ist sie ungehorsam (indem sie z. B. gegen seinen Willen das Haus verlässt und berufstätig ist), kann der Ehemann seine Unterhaltszahlungen einstellen. Diese Grundlage des islamischen Eherechts von Überordnung und Unterordnung zieht eine Reihe von Folgerungen nach sich, die sich auf das gesamte islamische Ehe-, Scheidungs- und Kindschaftssorgerecht auswirken.

Beispiele für die rechtliche Bevorzugung des Mannes

1. Die Überlegenheit des Mannes, die auch die Überlieferung wieder und wieder herausstellt, wird in einigen Koranversen zum Zeugenrecht näher ausgeführt. Nach Sure 2,282 kann die Zeugenaussage eines Mannes nur von zwei Frauen aufgewogen werden, denn „eine Frau allein kann sich irren“ (2,282). Viele muslimische Theologen bescheinigen Frauen von ihrer ’natürlichen Anlage her‘ emotional eine größere Labilität, Irrationalität und beschränkte Einsicht in intellektuelle Angelegenheiten. „Frauen stehen unter der Herrschaft ihrer Gefühle, wohingegen Männer ihrem Verstand folgen“10. Eine Unterdrückung der Frau sei dies nicht – so die muslimische Apologetik; der Islam fordere lediglich nicht mehr von der Frau als sie aufgrund ihrer biologischen Gegebenheiten zu leisten imstande sei. „Die geistige Überlegenheit des Mannes über die Frau … ist einfach von der Natur so vorgegeben.“11

2. Unter den Ungleichheiten des Eherechts ist auch der bekannte „Züchtigungsvers“ des Korans zu benennen, der dem Ehemann ein Erziehungsrecht an seiner Frau zugesteht: „Und wenn ihr fürchtet, dass (irgendwelche) Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie!“ (Sure 4,34). Zwar ruft die Überlieferung Männer gleichzeitig dazu auf, ihre Frauen gut zu behandeln und zahlreiche Theologen betonen, dass eine Frau niemals heftig oder ins Gesicht geschlagen werden dürfe, zumindest nicht so, dass sie eine Verletzung davontrüge. Die islamische Apologetik betont, Schläge seien nur ein letztes Erziehungsmittel, wenn auf andere Weise kein ‚Frieden‘ in eine Familie zu bringen sei. Da der Mann rationaler sei und das Oberhaupt der Familie, obliege es ihm, die Ordnung zu wahren und Rebellion und Unfrieden – notfalls mit Druckmitteln – zu beenden. Von Muhammad ist überliefert: „Der Prophet sagte: Schlagt nicht die Mägde Gottes. Da kam Umar [der zweite Kalif, regierte 634-644 n. Chr.] und sagte:“O Gesandter Gottes, die Frauen rebellieren gegen ihre Gatten‘. So erlaubte er, sie zu schlagen.“12

3. Auch das auf Koran und Überlieferung gründende Scheidungsrecht gesteht dem Mann größere Rechte zu: Die traditionelle Verstoßungsformel „Ich verstoße Dich“ reicht heute in vielen Ländern nicht mehr aus, dennoch ist die Scheidung für den Mann bis heute erheblich einfacher als für die Frau, die ihrerseits für eine Scheidung immer einen Gerichtsprozess anstrengen und stichhaltige Gründe vorbringen sowie Beweise für ein Fehlverhalten des Mannes vorlegen muss, um eine Scheidung erwirken zu können. Gleichzeitig wird eine Scheidung sie jedoch häufig sozial stigmatisieren und wirtschaftlich in verzweifelter Lage zurücklassen. Auch die „widerrufliche“ Scheidung ist dem Mann allein erlaubt, indem er die Scheidungsformel nur einmal ausspricht und seine Frau wochen- und monatelang in einem Schwebezustand zwischen Scheidung und Ehe hält. Die Entscheidung, ob der Ehemann spätestens vor Ablauf des vollendeten dritten Monats die Scheidung zurücknimmt und die Ehe fortsetzt oder den letzten Tag der Zurücknahmemöglichkeit einfach verstreichen lässt und die Frau als verstoßen gilt, liegt allein bei ihm, und niemand kann ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. In den letzten Jahrzehnten haben allerdings etliche Länder die Scheidung für den Mann erschwert, z. B. indem das Gericht der tatsächlichen Scheidung ein oder zwei Versöhnungsversuche vorschaltet und einen Vermittler beruft.

4. Die rechtliche Bevorzugung des Mannes im islamischen Eherecht wird auch im Kindschaftssorgerecht deutlich, da nach traditioneller Auffassung nach einer Scheidung die gemeinsamen Kinder eines Paares immer dem Mann gehören, in dessen Familie sie nach dem Ende der Kleinkinderzeit aufwachsen. Sieht das klassische islamische Recht eine vorübergehende Personensorge für Jungen bis sieben, für Mädchen bis neun Jahre durch die Mutter vor, haben heute viele islamische Länder diese Fristen angehoben und erlauben der Mutter die Fürsorge bis zum Alter von 15 Jahren für Jungen und bis 18 für Mädchen, nicht selten auch bis zur Eheschließung. Allerdings werden in einer Gesellschaft, die Männern so eindeutig den rechtlichen Vorrang einräumt, nicht selten Mittel und Wege gefunden, Müttern dieses Recht zu entziehen.

5. Wird im traditionellen Rahmen geheiratet, wie es für die Mehrzahl der Eheschließungen noch heute üblich ist, wird auch heute die Mehrzahl der Frauen von ihrem Vormund „verheiratet“, häufig, indem sie selbst kein Mitspracherecht bei der Wahl des Ehepartners hat. Traditionell gilt eine Eheschließung für Mädchen ab etwa 9 Jahren für möglich – gemäß des Vorbildes Muhammads, der seine Lieblingsfrau Aisha mit rund 9 Jahren zur Frau genommen haben soll – heute haben jedoch etliche Länder zumindest gesetzlich das Mindestheiratsalter für Mädchen wie Jungen auf meist 16 bzw. 18 Jahre heraufgesetzt. Im städtischen Bereich leidet die Großfamilie unter Auflösungserscheinungen, die soziale Kontrolle wird weniger eng und „Liebesheiraten“ häufiger. Dennoch: nur eine Minderzahl muslimischer Frauen sind in der Lage, eine eigene Wahl hinsichtlich ihrer allgemeinen Lebensperspektive wie auch im Blick auf den Ehemann zu treffen, die Mehrzahl wird von ihrer Familie verheiratet, indem ihre Eltern für sie verhandeln und entscheiden. Die Frau unterzeichnet in aller Regel nicht selbst ihren Ehevertrag, ja ist selbst nicht unbedingt anwesend – d.h. ist im rechtlichen Sinn nicht für sich selbst handlungsberechtigt – sondern wird von ihrem Vater oder einem anderen männlichen Familienmitglied vertreten. Der Ehevertrag – und darin besonders die Höhe der Brautgabe – wird in aller Regel nicht von ihr selbst ausgehandelt , sondern von ihrer Familie.

6. Eine Benachteiligung der Frau ist aus nichtmuslimischer Sicht selbstverständlich auch die Polygamie, die dem Mann – ausgenommen in Tunesien und der Türkei – prinzipiell immer die Möglichkeit zu einer Zweitehe eröffnet (4,3), die Frau zur Zweit- oder Drittfrau degradieren kann, während umgekehrt eine Mehrehe für Frauen selbstverständlich nicht zulässig ist. Von Schiiten wird zudem die „Zeitehe“ (oder „Genuß“-Ehe) praktiziert, eine Art Nebenehe, die über die erlaubten vier Frauen hinaus für einen begrenzten Zeitraum – z. B. für eine Reise – auch ohne Wissen der Ehefrau(en) geschlossen werden kann.

7. Deutlich benachteiligt ist die Ehefrau auch im Erbrecht, wenn das – im übrigen überaus komplizierte muslimische Erbrecht – der Frau immer nur die Hälfte von dem zubilligt, was ein männliches Familienmitglied an ihrer Stelle erhalten hätte.

8. Und schließlich weisen auch Familie, Gesellschaft und nahöstlichmuslimische Kultur der Frau einen nachgeordneten Platz zu, wenn sie empfiehlt oder sogar anordnet, dass eine Frau Sitte und Anstand zu wahren und sich bevorzugt im Haus aufzuhalten habe, um nicht durch ihr Verlassen des Hauses und ihren Umgang mit nichtverwandten Männern Anlass zu Unmoral zu geben. Sie hat sich zu verhüllen, sie ist für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral wie das Ansehen der eigenen Familie verantwortlich, und ihr Verhalten wird streng anhand dieser Normen kontrolliert. Zwar sehen Koran und Überlieferung in der Theorie für den Mann wie für die Frau dieselben Strafen für Unzucht bzw. Ehebruch vor (Auspeitschen, Steinigung). In der Praxis jedoch wird Männern vor und in der Ehe ein weitaus größerer Bewegungsspielraum und z.T. gelegentliche moralische Verstöße zugestanden, da die Frau allein als die Bewahrerin der Familienehre gilt und ihr Verhalten die Familie entehrt, nicht das des Mannes. Dabei verträgt sich diese rechtlich und gesellschaftlich durchgängig sichtbare Höherordnung des Mannes aus muslimischer Sicht durchaus mit dem Gleichheitsgrundsatz, den islamische Menschenrechtserklärungen für Frau und Mann formulieren, denn die Frau sei zwar gleichwertig, aber nicht gleichartig geschaffen. Die Unterschiedlichkeit von Mann und Frau komme in der unterschiedlichen Aufgabenverteilung zum Ausdruck, die schon durch Schwangerschaft und Geburt vorgegeben sei. Die islamischen Ehegesetze dienten daher keinesfalls der Unterdrückung, sondern eigentlich dem Schutz der Frau – so die muslimische Apologetik. Selbstverständlich fordern islamische Frauenbewegungen seit Jahrzehnten vermehrte Rechte ein. Aber dennoch: Frauenrechtlerinnen sind in aller Regel davon überzeugt, dass der Islam – wenn er nur richtig verstanden und gelebt würde – der Frau volle Rechte gewähre und sie in einer „wahrhaft islamischen“ Gesellschaft glücklich und zufrieden leben könne. Daher fordern Frauenrechtlerinnen in der Regel nicht die Aufhebung des islamischen Gesetzes oder eine Säkularisierung des Islam, sondern lediglich die Rückkehr zum „wahren“ Islam, wie ihn Muhammad verkündigt habe.

Das islamische Strafrecht

Neben dem Ehe- und Familienrecht ist das islamische Strafrecht eines der Themen, bei dem sich im Vergleich zu westlichen Menschenrechtsvorstellungen und westlicher Gesetzgebung die größten Differenzen ergeben. Das islamische Strafrecht basiert nach überwiegender Meinung auf einer Dreiteilung in Grenz-, Ermessens- und Wiedervergeltungsvergehen. Vergleichsweise wenige Verbrechen und das dafür vorgesehene Strafmaß werden im Koran konkret benannt. In einigen Fragen bricht der Koran mit dem arabischen Gewohnheitsrecht, in einigen Fragen modifiziert er es, wenn er z. B. bei Mord und Totschlag eine begrenzte Vergeltung erlaubt. Hinzu kommt ein großes Spektrum an Vergehen, deren Ahndung weitgehend im Ermessen der betreffenden Rechtsorgane liegt. Teilweise sind die zu erwartenden Strafen nicht im voraus definiert und abzuschätzen.

Grenzvergehen (hadd-Vergehen)

Mit „Grenzvergehen“ werden diejenigen vergleichsweise wenigen Verbrechen bezeichnet, die der Koran oder die Überlieferung als Kapitalverbrechen benennen und mit einem im Koran bzw. der Überlieferung definierten Strafmaß belegen. „Grenz“vergehen sind es, weil sie nicht menschliches Recht, sondern das Recht Gottes verletzen13, indem eine Grenze überschritten wird. Ein Gerichtsverfahren wegen eines Grenzvergehens darf daher nicht durch eine außergerichtliche Einigung abgewendet, noch darf die Strafe verschärft oder vermindert werden, sondern es muss genau die im Koran bzw. der Überlieferung vorgesehene Strafe vollstreckt werden.

Zu den Grenz- bzw. Kapitalverbrechen gehören:

1. Ehebruch und Unzucht (arab. zina‘), außerehelicher, ohne Zwang ausgeübter Geschlechtsverkehr von mündigen, geistig gesunden Verheirateten oder Unverheirateten. Der Koran bedroht den unzüchtigen Unverheirateten nach Sure 24,2-3 mit 100 Peitschenhieben, die Überlieferung fordert die Todesstrafe für Verheiratete. War die Frau unverheiratet, der Mann aber verheiratet, soll die Frau im Haus eingesperrt werden, „bis der Tod sie abberuft oder Gott ihr einen Ausweg schafft“ (4,15). Ist der Mann unverheiratet, die Frau aber verheiratet, soll er für ein Jahr verbannt werden; die Frau erhält 100 Peitschenhiebe.

2. Die Verleumdung wegen Unzucht (arab. qadhf) erfordert nach Sure 24,2-3 80 Peitschenhiebe. Diese vermutlich zum Schutz vor ungerechtfertigter Anzeige gedachte Regelung kann sich auch gegen das Opfer einer Vergewaltigung wenden, wenn eine Frau diese zwar zur Anzeige bringt, aber keine vier männlichen Zeugen noch ein Geständnis erbringen kann. Dann droht ihr eine Gegenklage der Verleumdung wegen Unzucht, und sie wird ein zweites Mal zum Opfer.

3. Schwerer Diebstahl (arab. sariqa): Sure 5,33+38 fordert ebenso wie die Überlieferung beim ersten Mal die Amputation der rechten Hand und im Wiederholungsfall des linken Fußes. Die islamische Rechtswissenschaft hat mehrere Möglichkeiten gefunden, diese harte Strafe zu umgehen, indem sie einen Diebstahl nur unter gewissen Bedingungen als echten Diebstahl gelten lässt (was z. B. bei Taschendiebstahl oder einem Diebstahl aus Not heraus nicht gegeben ist). Die hanbalitische Rechtsschule anerkennt zudem den „Rechtskniff“ (die Rechtsumgehung), dass der Beschuldigte schwört, das gestohlene Gut gehöre ihm, damit er der Amputation entgehen kann.14

4. Schwerer Straßen- und Raubmord (arab. qat‘ at-tariq) Wegelagerei (ohne dass Raub oder Mord hinzukommen) soll nach Auffassung mancher Rechtsgelehrter mit Gefängnis oder Verbannung bestraft werden. Wegelagerei in Verbindung mit Raub fordert die Amputation der rechten Hand und des linken Fußes. Kommt zur Wegelagerei die Tötung eines Menschen hinzu, wird über den Täter die Todesstrafe verhängt. Raub in Verbindung mit Totschlag erfordert die Hinrichtung und Kreuzigung des Täters.

5. Der Genuss von Wein (arab. shurb al-hamr) bzw. aller berauschender Getränke. Vielfach werden auch jede Art von Drogen darunter gefasst. Die Überlieferung fordert 40 (andere Überlieferungen: 80) Schläge zur Bestrafung von Weingenuss.
Die Überlieferung – nicht jedoch der Koran – benennt unter den Kapitalverbrechen zudem Homosexualität und Vergewaltigung, allerdings wird das Strafmaß dafür unter muslimischen Theologen kontrovers diskutiert. Einige Juristen fordern in diesen Fällen die Todesstrafe, andere reihen die Homosexualität unter „Ermessensvergehen“ ein. Auch der Abfall vom Islam verlangt nach überwiegender Auffassung aller vier Rechtsschulen die Todesstrafe, obwohl der Koran demjenigen, der dem Islam den Rücken kehrt, nur eine Strafe im Jenseits androht. Für das Diesseits fordert lediglich die Überlieferung die Todesstrafe.

Die Voraussetzung für eine Verurteilung wegen eines Kapitalverbrechens ist entweder ein Geständnis bzw. die Aussage zweier glaubwürdiger männlicher Augenzeugen, bei Ehebruch und Unzucht sind sogar vier männliche Augenzeugen erforderlich. Ein Geständnis muss freiwillig erfolgen und der Geständige mündig und geistig gesund sein und vorsätzlich gehandelt haben15. Wenn allerdings kein Beweisverfahren für ein Kapitalverbrechen geführt werden kann, kann ein Verdächtiger dennoch bestraft werden, z. B. mit einer Strafe, die im Ermessen des Richters liegt. Geständnisse können bis zur Vollstreckung der Strafe zurückgezogen oder auch bei Unglaubwürdigkeit vom Richter zurückgewiesen werden, und Kapitalverbrechen verjähren überaus rasch. Indizienprozesse (etwa anlässlich einer Schwangerschaft einer unverheirateten Frau) sind unüblich, aber in Einzelfällen möglich. All das schränkt die Verhandlung von Kapitalverbrechen vor Gericht ein wie auch die Tatsache, dass die meisten Kapitalvergehen – insbesondere Fälle von Ehebruch und Unzucht – kaum vor Gericht gebracht werden dürften, sondern insbesondere eine Frau von ihrer eigenen Familie mit Schlägen, Einsperren oder Tod bestraft werden wird.

Verbrechen mit Wiedervergeltung (qisas-Vergehen)

Die zweite Kategorie der Verbrechen sind nach der Einteilung der Scharia Vergehen mit Wiedervergeltung (arab. qisas) gegen Leib und Leben eines Menschen. Mord oder Totschlag verletzen also nach Auffassung der Scharia nicht göttliches, sondern nur menschliches Recht, während Ehebruch und Alkoholgenuss unter die Grenzvergehen fallen, die Gottes Recht verletzen16. Die Verbrechen mit Wiedervergeltung erfordern die Zufügung derselben Verletzung bzw. die Tötung des Schuldigen, die – falls der Berechtigte darauf verzichtet – in Zahlung von Blutgeld umgewandelt werden kann, sowie eine religiöse Bußleistung wie z. B. zusätzliches Fasten (2,178-179). Im juristischen Sinne schuldig ist nur der Volljährige, der im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ist.

Wiedervergeltung bedeutet die Zufügung derselben Verletzung bzw. die Tötung des Mörders oder Totschlägers unter Aufsicht des Richters. Sofern ein Mensch vorsätzlich zu Tode gebracht wurde, kann die Familie des Getöteten die Tötung des Schuldigen verlangen. Allerdings kann nur der nächste männliche Verwandte diese Forderung aussprechen, der die Tötung des Schuldigen unter Aufsicht des Richters durchführen darf. Dabei gilt streng das Prinzip der Gleichheit: eine Frau für eine Frau, ein Sklave für einen Sklaven. „O ihr Gläubigen! Euch ist Wiedervergeltung für die Getöteten vorgeschrieben: Der Freie für den Freien, der Sklave für den Sklaven, und die Frau für die Frau!“ (Sure 2,178). Kann diese Gleichheit nicht hergestellt werden, darf keine Wiedervergeltung geübt werden. Die Familie des Opfers kann auf die Tötung des Schuldigen verzichten und stattdessen die Zahlung eines Blutpreises (arab. diya) fordern. Im Iran beträgt der Blutpreis für einen muslimischen Mann derzeit 100 fehlerlose Kamele, 200 Kühe oder 1.000 Hammel, 200 jemenitische Gewänder und 1.000 Dinar oder 10.000 Silberdirham17. Für eine Frau beträgt er in der Regel die Hälfte, ebenso ist er für einen Nichtmuslim meist geringer. Wurde einem Opfer nur eine Verletzung zugefügt, kann dem Täter dieselbe Verletzung zugefügt werden, aber nur vom Opfer selbst. Auch hier kann eine Entschädigung bezahlt werden, wenn das Opfer auf Vergeltung verzichtet.

Ermessensvergehen (ta’zir-Strafen)

Alle anderen Fälle, die nicht zu den Kapitalverbrechen und Verbrechen mit Wiedervergeltung gehören, sind bei der Bestrafung in das Ermessen des Richters gestellt. Aufruhr, falsches Zeugnis, Beleidigung, Bestechung, Urkundenfälschung, Unterschlagung, Verkehrsverstöße, Betrug, Erpressung, Kidnapping u. a., sowie Kapitalvergehen, die z. B. durch einen Mangel an Beweisen nicht als Kapitalverbrechen bestraft werden können, gehören zu den Ermessensvergehen. Der Richter kann harte Strafen verhängen wie lange Gefängnisstrafen (auf eine bestimmte Zahl von Jahren begrenzte und unbegrenzte Haft), Verbannung, Auspeitschung (die Ansichten unter muslimischen Theologen variieren von 20 bis 99 Peitschenhieben18) oder Geldstrafen. Der Richter kann den Täter seines Amtes entheben oder seinen Besitz beschlagnahmen (die Hanafiten lehnen diese letzte Strafmaßnahme ab, die Malikiten erkennen sie als rechtmäßig an19). Auch eine bloße Ermahnung oder ein Tadel kann als Ermessensstrafe gelten. Der Richter kann den Schuldigen öffentlich bloßstellen und vor ihm als einer nicht vertrauenswürdigen Person warnen20. In schweren Fällen kann der Richter für Ermessensvergehen sogar die Todesstrafe verhängen, und zwar nach verbreiteter Auffassung vor allem bei Gewohnheitstätern ohne Aussicht auf Besserung: Homosexuelle, Verkünder von Häresien, die die islamische Gemeinschaft spalten, Mörder, sofern ihre Tat nicht durch Vergeltung gerächt wird, Rauschgifthändler oder Spione. Allerdings ist die Berechtigung der Verhängung der Todesstrafe unter den Rechtsgelehrten strittig, denn einige Theologen sind der Auffassung, dass eine Ermessensstrafe nie den Umfang einer Kapitalstrafe erreichen dürfe. Die Bandbreite an Straftatbeständen, die in den Ermessensbereich des Richters fallen, ist immens groß. Vor allem dort, wo noch kein kodifiziertes Strafgesetzbuch vorliegt (wie wohl derzeit noch in Bahrain, Qatar, Oman, VAE) ist die Bestrafung für ein Vergehen, das weder unter die Grenz-, noch unter die Wiedervergeltungsverbrechen fällt, damit weitgehend offen. Das Entstehen rechtsstaatlicher Strukturen scheint unmöglich, da von Seiten des Staates keine vorherige Festlegung des Strafmaßes für bestimmte Vergehen existiert.

Die Scharia – gerecht und gut?

Das islamische Strafrecht wird also durch mehrere Besonderheiten gekennzeichnet: Zum einen durch seine immens harten Strafen wie Auspeitschung, Amputation, Steinigung und Kreuzigung für Kapitalverbrechen. Gleichzeitig ist ein Prozess nur sehr schwer, bzw. im Fall des Ehebruchs bzw. der Unzucht, der vier männliche Augenzeugen erfordert, so gut wie unmöglich. Dieser Umstand und die nahöstlich-muslimische Auffassung von Ehre und Schande, die die Frau als Trägerin der Ehre z. T. harten Sanktionen aussetzt, macht die private Ahndung eines vermeintlichen oder tatsächlichen Verbrechens wahrscheinlicher, da nach überwiegender Auffassung durch eine familiäre Bestrafung kein wirkliches Unrecht begangen, sondern der richterlichen Gerechtigkeit nur vorgegriffen wurde. Nach Auffassung der muslimischen Apologetik ist das islamische Strafrecht letztlich der Menschheit dienlicher als das Strafrecht westlicher Länder mit seiner Konzentration auf Gefängnis- (und in geringerem Maß: Geld-)strafen, da es in weitaus größerem Maß der Abschreckung diene. Zudem falle ein Straftäter der Gesellschaft nicht durch lange Gefängnisstrafen zur Last21. Unberücksichtigt bleibt dabei allerdings, dass Gefängnisstrafen islamischer Länder oft sehr hoch sein oder aufgrund des Fehlens rechtstaatlicher Strukturen sogar unbestimmt verlängert werden können, sowie die Tatsache, dass ein Amputierter ebenfalls der Gesellschaft zur Last fallen wird. Hat man vor 30, 40 Jahren noch angenommen, dass die Autorität der Scharia im Zuge der Globalisierung an Bedeutung verlieren und auch die islamische Welt von einer im Westen weit vorangeschrittenen Säkularisierung ergriffen werden würde, wurde spätestens in den 70er Jahren deutlich, dass eine umgekehrte Entwicklung, eine Rückbesinnung und Neuorientierung auf das islamische Recht einsetzte, wobei sich allerdings die Umsetzung der erstrebten Islamisierung in wohlabgewogenen Detailgesetzen und der Schaffung eines lückenlosen Rechtskodex – dessen Grundlage allein die Scharia wäre – als überaus schwierig erwies. Enttäuscht von westlicher Politik und deren Verfolgung eigennütziger Interessen, konfrontiert mit mancherlei landesinternen Problemen wie einer hohen Arbeitslosigkeit, Überbevölkerung, Bildungsmisere, einer weithin fehlenden Infrastruktur und Unterentwicklung, suchte die islamische Welt Neuorientierung in der Rückbesinnung auf den Islam, während Islamisten die vollständige Durchsetzung des Islam in der Gesellschaft und die Rückkehr zum „Goldenen Zeitalter des Islam“ zu Zeiten Muhammads und der ersten vier Kalifen forderten, um der islamischen Welt die Stärke und Überlegenheit vergangener Jahrhunderte zurückzugeben.
Dort, wo die Scharia – zumindest teilweise – in die Praxis umgesetzt wurde, muss sie ihr Versprechen, den Menschen Würde, Freiheit und Gerechtigkeit zu bringen, erst noch einlösen. Minderheiten und Frauen sind die Leidtragenden auf dem Weg zu einer vermeintlich vollständigen Islamisierung der Gesellschaft. Auch in Deutschland ist für die Auseinandersetzung mit dem Islam eine vertiefte Beschäftigung mit dem islamischen Recht unbedingt erforderlich, damit auch Nichtmuslime in der Diskussion über Menschen- und Frauenrechte nach islamischem Verständnis kompetente Gesprächspartner sein und den bisher vereinzelt erhobenen Forderungen, der Scharia langfristig auch in Europa zur Geltung zu verhelfen, mit Sachkenntnis entgegentreten können.

Zusammenfassung

„Die Scharia“ wird häufig als Synonym für das islamische Strafrecht verstanden. Das Strafrecht mit seinen rigiden Körperstrafen (Auspeitschung, Hand- und Fußamputation, Steinigung) ist zwar ein Bestandteil der Scharia, aber auch das Erb- und Vermögensrecht sowie die detaillierten Anweisungen zur Religionsausübung (vor allem der „Fünf Säulen“ des Islam) gehören ebenso dazu. Kernbestandteil der Scharia ist jedoch das Ehe- und Familienrecht. Während die muslimische Apologetik die gleichwertige Erschaffung von Mann und Frau vor Gott hervorhebt und die „Geschlechtergerechtigkeit“ zwischen beiden zum Schlüssel für ein friedliches Miteinander erklärt, müssen Frauen gleichzeitig zahlreiche rechtliche Benachteiligungen in Kauf nehmen, die den Mann ihr deutlich vorordnet.


Fußnoten

  1. Ahmad Hasan, The Principles of Islamic Jurisprudence. Vol. 1. Islamic Research Institute International Islamic University: Islamabad, 1983, S. 85
  2. W. Montgomery Watt; Alford T. Welch. Der Islam I. Mohammed und die Frühzeit, Islamisches Recht, Religiöses Leben. Die Religionen der Menschheit. Bd. 25,1. W. Kohlhammer: Stuttgart, S. 240
  3. Zur Entwicklung des zwölferschiitischen Rechts s. Harald Löschner, Die Dogmatischen Grundlagen des Shi’itischen Rechts. Erlanger Juristische Abhandlungen Bd. 9, Köln, 1971
  4. Hans-Georg Ebert, Wider die Schließung des „Tores des igtihad“: Zur Reform der shari’a am Beispiel des Familien- und Erbrechts. in: Orient 43 (2002), S. 365-381, her S. 368
  5. Einen Überblick über die Ehe- und Familiengesetzgebung einiger arabischer Länder Nordafrikas und des Mittleren Ostens vermittelt Dawoud Sudqi El Alami, The Marriage Contract in Islamic Law in the Shari’ah and Personal Status Laws of Egypt and Morocco. Arab and Islamic Laws Series, London: 1992.
  6. O. Spies; E. Pritsch, Klassisches Islamisches Recht. 1. Wesen des Islamischen Rechts. in: Handbuch der Orientalistik. Abt. 1. Erg.bd. 3. Orientalisches Recht. Leiden, 1964, S. 223
  7. P. Newton, M. Rafiqul Haqq, The Place of Women in Pure Islam, Caney, 19943, S. 2
  8. Ibn Kathir, zitiert nach ebd.
  9. Akinola T. Aguda (Hg.), The Marriage Laws of Nigeria. National workshop. Papers presented, held at the Nigerian Insitute of Advanced Legal Studies, [Lagos/Nigeria] 1981, S. 40
  10. Murtada Mutahhari, The Rights of Women in Islam, Tehran, 1981, S. 182 mit Bezug auf eine nichtmuslimische Psychologin
  11. Ebd.
  12. Zitiert nach Adel-Theodor Khoury (Übers.), So sprach der Prophet. Worte aus der islamischen Überlieferung, Gütersloh, 1988, S. 268
  13. B. Carra de Vaux, J. Schacht, hadd. in: Encyclopaedia of Islam. Vol. 3, Leiden, 1986, S. 20
  14. Adel El Baradie, Gottes-Recht und Menschenrecht. Grundlagenprobleme der islamischen Strafrechtslehre, Baden-Baden, S. 115
  15. Silvia Tellenbach, Strafgesetze der Islamischen Republik Iran. Berlin 1996, S. 47
  16. Konrad Dilger, Tendenzen der Rechtsentwicklung. in: Werner Ende, Udo Steinbach, Der Islam in der Gegenwart. München, 19964, S. 206
  17. Silvia Tellenbach, Strafgesetze der Islamischen Republik Iran. Berlin 1996, S. 96-97
  18. Mohammed S. El-Awa, Punishment in Islamic Law: A Comparative Study, Indiana/USA, 1993, S. 107
  19. Ebd. 103-104
  20. Ebd. S. 102-103
  21. So referiert Nagaty Sanad, The Theory of Crime and Criminal Responsibility in Islamic Law: Shari’a, Chicago, Illinois/USA, 1991, S. 56-57
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