5 Jahre Proteste in Belarus: Stimmen aus der Diaspora

Fünf Jahre nach den historischen Protesten in Belarus leben Tausende Belarusen im deutschen Exil. Viele von ihnen kämpfen noch immer um rechtliche Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe. Während die Repressionen des Lukaschenko-Regimes unvermindert andauern, stehen Geflüchtete in Deutschland vor komplexen bürokratischen Hürden, die ihre Integration und ihr Recht auf Schutz gefährden.
Fünf Jahre nach den Protesten: Belarusen in Deutschland zwischen Hoffnung und rechtlicher Unsicherheit – Stimmen aus der Diaspora
Ein Bericht über die Situation belarusischer Schutzsuchender fünf Jahre nach Beginn der demokratischen Proteste

„Sprechen Sie das Thema in Ihrem eigenen Land an. Fragen Sie Ihre Regierung: Was unternimmt sie, um die Belarusen zu unterstützen? Welche Schritte unternimmt sie, um politische Gefangene zu befreien und humanitäre Probleme anzugehen? Arbeitet sie mit den belarusischen demokratischen Kräften zusammen?”
Swiatlana Tichanouskaja,
die belarusische Exil-Präsidentin, im Gespräch mit der ISHR-Delegation darüber, was die Europäer für die Belarusen tun können
Foto: https://tsikhanouskaya.org/
Stimmen aus der Diaspora
Maria, 38, ehemalige Journalistin aus Minsk: „Ich habe keine gültigen Papiere mehr, das belarusische Konsulat ist für mich gefährlich. Mein Status heißt Duldung – das bedeutet warten, hoffen, nicht arbeiten dürfen. Ich möchte nicht von Sozialhilfe leben, sondern arbeiten und Steuern zahlen. Aber das Gesetz verhindert dies.“
Sergej, 42, ehemaliger Kulturmanager: „In Belarus werde ich sofort verhaftet. Hier sagen die Behörden: ‚Ohne Pass keine Aufenthaltserlaubnis.‘ Ich bin zwischen zwei Systemen gefangen, die beide meine Existenz bedrohen.“
Anna, Aktivistin: „Die Angst reist mit uns. Selbst in Deutschland sind wir nicht frei, wenn Familienangehörige in Minsk leben und Repressionen ausgesetzt sind.“
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Fünf Jahre nach den historischen Protesten in Belarus leben Tausende Belarusen im deutschen Exil. Viele von ihnen kämpfen noch immer um rechtliche Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe. Während die Repressionen des Lukaschenko-Regimes unvermindert andauern, stehen Geflüchtete in Deutschland vor komplexen bürokratischen Hürden, die ihre Integration und ihr Recht auf Schutz gefährden.
Die aktuelle Rechtslage: Niedrige Schutzquoten trotz anhaltender Verfolgung
Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden zwischen 2021 und 2023 über 1.100 Asylanträge von belarusischen Staatsangehörigen gestellt. Die Anerkennungsquoten blieben erschreckend niedrig: 2021 lag sie bei nur 2,6 Prozent, 2022 bei 3,5 Prozent. Obwohl sie im ersten Halbjahr 2023 auf 11,8 Prozent stieg, blieb sie am Jahresende unter 10 Prozent.
Diese Zahlen stehen in krassem Widerspruch zur dokumentierten Menschenrechtslage in Belarus. Das Menschenrechtszentrum Vesna registriert derzeit über 1.400 politische Gefangene. Systematische Folter, willkürliche Verhaftungen und die Verfolgung der Zivilgesellschaft sind dokumentiert und von internationalen Organisationen bestätigt.
Das humanitäre Visaprogramm: Eine Lebenslinie wird gekappt
Zwischen 2021 und Juli 2025 bot das humanitäre Visaprogramm nach § 22 AufenthG einen alternativen Schutzweg. Etwa 300 Menschen – überwiegend politisch verfolgte Belarusen – konnten über dieses Programm nach Deutschland einreisen. Darunter waren Journalisten, Aktivisten, Ärzte, Lehrer und Kulturschaffende, die ihre Arbeit im deutschen Exil fortsetzen und die demokratische Bewegung unterstützen.
Die Aussetzung des Programms im Juli 2025 durch das Bundesinnenministerium stellt einen schwerwiegenden menschenrechtlichen Rückschritt dar. Mehrere hundert bereits laufende Anträge hängen nun in der Schwebe. Für viele Antragsteller ist eine Rückkehr nach Belarus lebensgefährlich, doch ohne Aufenthaltsperspektive in Deutschland geraten sie in ein rechtliches Vakuum.

Auszug aus der Infografik „4 Jahre Massenunterdrückung“ der belarusischen Exilorganisation Viasna
Das Passdekret: Staatenlosigkeit durch administrative Gewalt
Besonders dramatisch wirkt sich das Dekret Nr. 278 vom 4. September 2023 aus, dass Präsident Lukaschenko unterzeichnete. Es entzog belarusischen Konsulaten im Ausland die Befugnis, Reisedokumente auszustellen oder zu verlängern. Seit dem 7. September 2023 müssen Bürger ihre Pässe ausschließlich in Belarus beantragen – persönlich im Innenministerium am Ort der letzten Registrierung.
Für politisch verfolgte Menschen im Exil bedeutet dies: Um gültige Reisedokumente zu erhalten, müssten sie in ein Land zurückkehren, wo ihnen Verhaftung, Folter oder langjährige Haftstrafen drohen. Diese Regelung hat Zehntausende Belarusen weltweit faktisch staatenlos gemacht und verstößt gegen internationale Rechtsnormen.
Menschen ohne gültige Reisedokumente erhalten in Deutschland lediglich eine Duldung. Das bedeutet: kein Zugang zum Arbeitsmarkt, Unterbringungspflicht in Sammelunterkünften und die ständige Bedrohung durch Abschiebung – obwohl eine Rückkehr nach Belarus unmöglich oder lebensgefährlich wäre.
Das Dublin-System als zusätzliche Hürde
Ein Großteil der belarusischen Geflüchteten erreichte Deutschland über Litauen, Polen oder Lettland. Das Dublin-Abkommen schreibt vor, dass das Ersteinreiseland für das Asylverfahren zuständig ist. Dies führt dazu, dass Deutschland Antragsteller in Länder zurückschickt, wo sie bereits negative Bescheide erhalten oder schlechte Erfahrungen gemacht haben.
Diese Praxis ignoriert die individuelle Schutzbedürftigkeit und zwingt bereits traumatisierte Menschen in langwierige Verfahren in verschiedenen Ländern.

V.l.n.r. Maryja Kolesnikowa mit Herz, Swetlana Tichanowskaja mit Faust und Veronika Zepkalo mit dem „Victory-Zeichen“, Werbung für Großveranstaltung in der Hauptstadt Minsk am 30. Juli 2020.
Menschenrechtliche Defizite und strukturelle Probleme
Die aktuelle Praxis verstößt gegen mehrere völkerrechtliche Prinzipien:
- Non-Refoulement-Prinzip: Menschen dürfen nicht in Länder abgeschoben werden, wo ihnen Verfolgung droht
- Recht auf Familie: Familien werden durch Dublin-Überstellungen und restriktive Visa-Politik getrennt
- Recht auf Arbeit und Bildung: Langzeitduldungen verhindern gesellschaftliche Teilhabe
- Verbot der Staatenlosigkeit: Das belarusische Passdekret schafft de facto Staatenlosigkeit
- Forderungen für eine menschenrechtsbasierte Politik
Sofortmaßnahmen:
- Wiederaufnahme des § 22-Programms für dokumentierte Fälle politischer Verfolgung
- Ausstellung von Ersatzdokumenten für Personen, die sich nicht an belarusische Konsulate wenden können
- Aussetzung von Dublin-Überstellungen nach Belarus-bezogenen Asylverfahren
Strukturelle Reformen:
- Schulung von BAMF-Mitarbeitern zur spezifischen Situation in Belarus
- Vereinfachung der Anerkennungsverfahren bei dokumentierter politischer Verfolgung
- Zugang zu Integrationskursen und Arbeitsmarkt ab dem ersten Tag, unabhängig vom aufenthaltsrechtlichen Status
Langfristige Lösungen:
- Entwicklung eines EU-weiten Schutzstatus‘ für belarusische Demokratieaktivisten
- Diplomatische Initiativen zur Anerkennung alternativer belarusischer Reisedokumente
- Stärkung der humanitären Aufnahmeprogramme auf Bundes- und Länderebene

Herbst 2021, große IGFM Kundgebung gemeinsam mit Martina Feldmayer und Kulturverein Belarus/KuB
Fazit
Fünf Jahre nach Beginn der belarusischen Revolution für Demokratie und Menschenrechte ist es beschämend, dass viele der damals Verfolgten in Deutschland noch immer um grundlegende Rechte kämpfen müssen. Menschen, die für die Werte eingetreten sind, die auch das Grundgesetz prägen – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde –, verdienen mehr als administrative Hürden und jahrelange Rechtsunsicherheit.
Deutschland hat die Chance und die Verpflichtung, diesen Menschen nicht nur Schutz, sondern auch Perspektiven zu geben. Eine Reform der aktuellen Praxis ist nicht nur moralisch geboten, sondern auch im deutschen Interesse: Hochqualifizierte, demokratisch gesinnte Menschen können eine Bereicherung für die deutsche Gesellschaft sein – wenn man ihnen die Chance dazu gibt.
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*Die Namen der zitierten Personen wurden zum Schutz ihrer Identität geändert. Dieser Bericht basiert auf Interviews mit Betroffenen, Daten offizieller Stellen und der Auswertung aktueller Rechtsentwicklungen. *
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„Wir beobachten ein System der Einschüchterung, das inzwischen Generationen geprägt hat. Die Repression von 2020 war kein Einzelfall – sie ist Teil eines über Jahrzehnte aufgebauten autoritären Systems unter Alexander Lukaschenko, das auf systematischer Gewalt und dem Zerschlagen jeglicher Zivilgesellschaft beruht.“
Edgar Lamm,
Vorsitzender der IGFM zum 5. Jahrestag der Scheinwahlen in Belarus




