Gefoltert und getötet – Zivilisten aus dem Dorf Moschtschun

Interview vom 08.05.2023

Oleksandr Wasilijew

Während der Besetzung von Moschtschun (ein Dorf in der Region Kyjiw) verschonte die russische Armee die Zivilbevölkerung nicht. Der Großvater von Olha Iwanenko wurde mit drei Schusswunden im Kopf aufgefunden. Olha kann bis heute nicht verstehen, warum die Russen den 74-jährigen, körperlich beeinträchtigten Mann getötet haben.

Mein Name ist Olha Iwanenko und ich wohne in Moschtschun. Als der Krieg begann, lebte meine ganze Familie in unserem Haus: ich, mein Mann, unser Kind, meine Großeltern, meine Schwester, mein Schwager, meine Nichte und mein Bruder.

Wie hat der Krieg für Sie begonnen?

Es war schrecklich! Das erste, was wir sahen, waren russische Hubschrauber. Wir waren draußen und sahen sie in Richtung des Flughafens von Hostomel fliegen. Ich weiß die genaue Zahl nicht, aber wir zählten ungefähr 36 Hubschrauber. Dann hörten wir Explosionen und sahen Rauch aus der Richtung von Hostomel kommen. Wir hatten große Angst. Wir verstanden, dass wir fliehen mussten und begannen, unsere Sachen zu packen. Am Abend wollten wir gehen, aber wir beschlossen zu bleiben. Am nächsten Tag mussten wir meinen Großvater aus dem Krankenhaus abholen (er war dort, bevor der Krieg begann). Er rief uns an und bat uns, ihn abzuholen, da viele unserer verwundeten Soldaten aus Hostomel ins Krankenhaus gebracht worden waren und er bereits aus seinem Zimmer auf den Flur gebracht worden war. Im Krankenhaus gab es keine leeren Zimmer, überall lagen verwundete Soldaten. Als wir zum Krankenhaus fuhren, sahen wir überall Soldaten und militärisches Gerät, es war sehr beängstigend: Auf der Straße lagen Leichen, die Brücke war fast zerstört. Schließlich schafften wir es, meinen Großvater nach Hause zu bringen. In dieser Nacht haben wir im Haus geschlafen, aber es gab Granatenbeschuss, also haben wir uns im Keller versteckt. Am nächsten Morgen war die russische Armee schon in Moschtschun, also beschlossen wir zu fliehen, aber mein Großvater entschied sich, in Moschtschun zu bleiben.

Wurde Moschtschun in den ersten Kriegstagen bombardiert?

Ja, vom ersten Tag an, fingen sie (die russischen Truppen) an, auf uns zu schießen. Es waren viele russische Soldaten in Moschtschun. Sie wurden noch lange danach aus dem Dorf gefischt.

Olha Iwanenko, Moschtschun

Warum wollte Ihr Großvater nicht mit evakuiert werden?

Opa wollte nicht gehen. Wir haben versucht, ihn zu überreden, aber er wollte nicht. Später kamen Freiwillige, um ihn abzuholen, aber er sagte, er wolle bleiben. Dann erzählten uns die Leute, dass sie am 8. März (2022) Rauch aus dem Haus aufsteigen sahen: Offensichtlich hatte er den Kamin angezündet und lebte noch. Aber seit dem 10. März, als es in Moschtschun sehr heftigen Beschuss gab und russische Panzer direkt auf die Häuser schossen, hat niemand mehr etwas von Großvater gehört oder gesehen. Nach einer Weile erfuhren wir, dass er erschossen worden war. Wir hatten Fotos, aber wir haben sie gelöscht, weil sie schrecklich waren. Man konnte ganz deutlich drei Löcher in seinem Kopf sehen; Kugeln, die durch seinen Körper austraten. Es war sehr erschreckend. Die Leiche lag eineinhalb Monate im Haus.

Unter welchen Umständen haben die russischen Soldaten Ihren Großvater erschossen?

Wir verstehen es bis heute nicht, er war 74 Jahre alt und behindert. Er hatte niemandem etwas Schlechtes getan. Er hat sein Leben gelebt… Niemand weiß, warum das passiert ist, und wir werden es nie erfahren.

Kennen Sie weitere Fälle von Kriegsverbrechen der Russen an ukrainischen Zivilisten in Moschtschun?

In unserem Dorf wurden viele Leute gefoltert. Eine Frau wurde an einen Baum gefesselt und die Leute sagen, sie sei vergewaltigt worden. Ich habe das Video gesehen: Sie war bereits tot an den Baum gebunden. Ich weiß, dass ein Mann aus unserem Dorf erschossen wurde, jemand wird noch vermisst. Und eine alte Frau wurde tot auf der Treppe neben ihrem Keller gefunden… Wir wissen immer noch nicht, ob sie an einem Herzinfarkt gestorben ist oder ob sie ermordet wurde.

Wie haben Sie erfahren, dass Ihr Haus zerstört wurde?

Wir hörten in den Nachrichten, dass Moschtschun bombardiert worden war. Später kam meine Schwester nach Moschtschun und schickte uns Bilder von unserem zerstörten Haus. Sie sagte, wir hätten kein Haus mehr.

Was genau wurde zerstört?

Das ganze Haus war zerstört. Alles im Haus wurde beschädigt: der Fernseher, der Kühlschrank usw.

Olha Iwanenkos zerstörtes Haus, Moschtschun

Hätten Sie sich einen solchen Schrecken vorstellen können?

Nein! Selbst als wir die russischen Hubschrauber sahen, als wir schon wussten, dass sie den Flughafen in Hostomel angegriffen hatten, dachten wir, sie würden den Flughafen und die Militäreinheiten zerstören und sich dann zurückziehen. Aber sie (das russische Militär) wollten weiter – sie wollten nach Kyjiw. Als sie schon hier waren, hofften wir zudem, dass sie niemanden umbringen würden, aber da sie Kyjiw nicht erreichen konnten, beschlossen sie, das Dorf zu zerstören.

Wie viele Granaten sind in Ihr Haus eingeschlagen?

Nach unserer Zählung waren es vier auf der einen Seite des Hauses, eine auf der anderen, drei im Hof und eine traf das Tor.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Wir müssen weitermachen, zumindest unser Haus wieder aufbauen… Wir haben keine andere Wahl, denn vom Staat bekommen wir keine Hilfe. Was wir selbst tun können, werden wir tun…

Helfen Ihnen Freiwillige?

Freiwillige helfen mit Lebensmitteln: nicht mehr so viel wie zu Beginn des Krieges, aber sie helfen immer noch.

Was haben Sie empfunden, als Sie von Moschtschuns Befreiung hörten?

Ich fühlte eine Erleichterung in meiner Seele. Ich verstand, dass unser Dorf befreit war und wir nach Hause zurückkehren konnten, aber ich hatte Angst, weil alles noch vermint war. Und übrigens sind hier immer noch viele Stellen vermint. Die Entschärfer arbeiten immer noch aktiv an der Beseitigung der Minen. Wenn ich mich an diese Zeit zurück erinnere hatte ich Angst, aber ich wollte auch nach Hause. Meine Großmutter kam vor mir nach Moschtschun zurück. Sie rief mich an und sagte, ich solle zurückkommen, aber ich ging nicht sofort, weil ich Angst hatte. Natürlich hatte ich vor allem Angst um mein Kind, damit es nicht irgendwo in den Wald läuft, wo es viele Minen gibt.

Hat sich Ihre Einstellung gegenüber den Russen verändert?

Ja, das hat sie! Es wäre besser, wenn es sie nicht gäbe.

Das Interview wurde von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe vorbereitet und von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte übersetzt.

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