Andenken an Benjamin Ferencz

Zum Andenken an den verstorbenen Juristen Benjamin Ferencz, veröffentlicht die IGFM ein Interview, aus dem Jahr 2000, mit Wolfgang Rieth. Benjamin Ferencz war der letzte bisher noch lebende Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, die von 1946 bis 1949 auf das Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher folgten. Bild: US Army photographers on behalf of the OCCWC; Adam Jones, Ph.D. (CC BY-SA 3.0)
Interview mit Benjamin Ferencz,
Chefankläger des Nürnberger Gerichtshofs,
im August 2000
Mit den Nürnbergern Prozessen begann ein wichtiges Kapitel in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Benjamin Ferencz war der letzte bisher noch lebende Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, die von 1946 bis 1949 auf das Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher folgten. Im Alter von 27 Jahren wurde Benjamin Ferencz zum Chefankläger im Einsatzgruppen-Prozess ernannt. Die historische Rolle des Juristen geht über die Bedeutung der damaligen Kriegsverbrecherprozesse hinaus. Nach den Prozessen setzte sich Benjamin Ferencz aktiv für das Vorankommen der Gründung des heutigen Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag ein. Am 7. April 2023 verstarb Benjamin Ferencz im Alter von 103 Jahren. Zum Andenken an den verstorbenen Juristen veröffentlich die IGFM ein Interview aus dem Jahr 2000 mit Benjamin Ferencz und Wolfgang Rieth.
Interviewer ist Wolfgang Rieth, Verwaltungsjurist, der die IGFM in der „Koalition für einen Internationalen Strafgerichtshof“ (CICC) vertritt und die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs bis zur Verabschiedung des Rom-Statuts aktiv begleitet hat. Zum besseren Verständnis: Die IGFM hat – finanziert mit EU-Mitteln – bei den osteuropäischen und der russischen Regierung für die Ratifizierung des IStGH geworben. Unterschriften mehrerer Staaten konnten durch Einsatz der IGFM geworben werden. Siehe auch die IGFM-Publikation „Der Internationale Strafgerichtshof – eine Einführung“, erste Auflage, 2001; leicht überarbeitete zweite Auflage, herausgegeben 2003.
Der nachfolgende Text ist die Abschrift eines Tonbandmitschnitts durch Karl Hafen
Online verfügbar seit 18. April 2023

Benjamin Ferencz
geb. 11.03.1920
gest. 07.04.2023
„Die Welt hat einen Anführer im Kampf für die Gerechtigkeit für Opfer von Genozid und damit verbundenen Verbrechen verloren.“
In seiner Einführung ging Herr Rieth auf den Prozess der Ratifizierung ein, der insbesondere durch den Druck der amerikanischen Regierung auf diverse Staaten verlangsamt wurde:
Benjamin Ferencz: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sprechen Sie von einer Blockade Amerikas. Aber es ist eine Blockade der amerikanischen Regierung, sie spricht durch den Präsidenten. Er kam zu den Vereinten Nationen, ich war dabei. Er sagte, dass er vor Ende des Millenniums, das war im vergangenen Jahr, wir ein Kriminalgericht haben. Sein Staatssekretär, Mme Albright, hat dafür sogar einen besonderen Botschafter eingesetzt. Auf der anderen Seite leben wir in einer politischen Welt. Es ist jetzt Wahlkampf und eine Wahlkampagne geht vor. Dieses Thema ist kompliziert. Wenn der rechte Flügel, den wir auch in Amerika haben, nicht nur in Deutschland, im Namen von Jesse Adams sagt: Wir möchten das nicht verbessern, sondern wir möchten das beseitigen (Ference spricht sogar von ‚töten‘), spricht er für eine besondere politische Gruppe. Und wenn das in die Presse kommt, und die anderen sind still, dann ist es eine politische Gefahr. Um aus diesem Thema keine Kampagne zu machen, bleibt die Regierung auch hier still.
Für uns als Nürnberger Ankläger ist das eine Sache, die wir versprochen haben. In einer Zeit vor mehr als fünfzig Jahren haben wir die Hoffnung gehabt, daß wir eine bessere Welt durch Recht und Frieden schaffen könnten. Und daß die Gesetze, die wir für Nürnberg geschaffen haben, überall gelten, auch für die Amerikaner. Scheinbar haben die Amerikaner das vergessen, denn sie suchen ein Gericht, vor dem kein amerikanischer Soldat angeklagt werden kann. Das ist natürlich unfair und nicht vertretbar. Aber wenn man ans Publikum gibt: ‚Jetzt wird das Amerikanische attackiert, weil sie – die Amerikaner – ihre humanitäre Arbeit weitermachen wollen. Sie werden uns jetzt anklagen vom Jugoslawientribunal, sie werden unsere Soldaten vor komische Gerichte bringen, wo die Chinesen sitzen, oder was weiß ich für welche Leute, das können wir nicht dulden.‘ Die Stimmung hat eine Resonanz bei denen, die nicht viel davon verstehen. Darum versuchen wir, es zu verändern. Es ist meine persönliche Meinung, es ist nicht die Meinung des amerikanischen Publikums, sondern das amerikanische Volk unterstützt die Nürnberger Prinzipien. Es hat nicht vergessen; es ist stolz darüber, daß die Welt anerkannt hat: diese Prinzipien waren richtig. Die Frage ist, wie und wann können wir das wieder ins Leben zurückbringen.
Die Amerikaner arbeiten mit der Vorbereitungskommission zusammen, versuchen die Hand im Spiel zu halten. Und sie tun es auch in der Hoffnung, daß wenn sich die politische Lage ein bisschen ändert, sie weitermachen können. Der allgemeine Eindruck, die Amerikaner sind dagegen und wollen dagegen protestieren: einige Amerikaner sind dagegen und wollen dagegen protestieren. Aber der amerikanische Präsident sagt nichts, es ist ungünstig zu dieser Zeit. Aber vielleicht nach den Wahlen sollten wir ihn an sein Vermächtnis erinnern, damit er nicht bei den Vereinten Nationen gelogen hat.
…
Rieth: Zwischenbemerkung: wird das Thema ein Thema des Wahlkampfes sein?
Ferencz: Das wird nicht ein Thema des Wahlkampfes sein. Das Publikum ist nicht genug informiert. Und man kann sie zu leicht erschrecken. ‚Was, sie werden jetzt unsere Soldaten anklagen, und das vor einem fremden Gericht?‘ und das, und das usw. Die Amerikaner sind ein bisschen naiv; sie interessieren sich für Fußball, aber nicht für internationales Recht. Ich glaube, es kann richtig sein, dass man Stimmen verliert, wenn man versucht, dieses Thema vorwärts zu bringen zu dieser Zeit. Gerade darum ist es so wichtig, jetzt nach Russland zu gehen und ihnen die Informationen in Russisch zu geben. Die meisten Amerikaner wissen nicht, dass es kein internationales Kriminalgericht gibt. ‚Was, es gibt kein Gericht? Wir haben doch ein Weltgericht irgendwo in Den Haag! Nein? Ach, das ist interessant. Nürnberg, ja Nürnberg, das kenne ich. Haben Sie davon gehört, dass es ein Gericht für Ruanda gibt? Ruanda? Wo liegt Ruanda?‘
Das ist leider eine Tatsache, aber wir machen große Fortschritte. Ich als ein „Anfänger“ in dieser Geschichte, als ich noch jünger und hübscher war, da waren wir aktiv, und dann gab es eine Zeit, in der ist nichts passiert. Ich habe Bücher geschrieben, große Bücher, lange Bücher, meine Frau hat sie gelesen, kein anderer. Es war im kalten Krieg. Plötzlich fängt es wieder an: Jugoslawien, Ruanda, internationale Tribunalgerichte; die deutsche Regierung dafür, die Europäische Gemeinschaft dafür. Das sind echte Fortschritte. Wir sind hier in einer Menschenrechtsorganisation, so etwas gab es nicht vor fünfzig Jahren. Als ich Schüler war, hatte ich nie so etwas gehört. Und ich kannte Richard Casey, er hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte geschrieben, er bekam dafür den Friedensnobelpreis zu meinen Lebzeiten. Er hat das Wort „Genozid“ erfunden. Und wenn ich heute fünfzig Jahre zurückblicke, so kann ich sagen: Ich habe mich die ganze Zeit damit beschäftigt.
Ich kann die Welt nicht akzeptieren, wie sie ist. Sie scheint mir zu verrückt zu sein. Und wenn ich das sehe, dann bin ich trotzdem ganz zufrieden. Natürlich haben wir Probleme, natürlich ist das Rom-Statut lächerlich. Es gibt Lücken, es gibt idiotische Sachen. Aber es ist Fortschritt. Das ist wichtig, man muß die Sache messen. Nicht ob es perfekt ist, sondern ob es vorwärts geht. Und wenn es vorwärts geht, auch wenn es langsam ist, das ist bemerkenswert. Das müssen wir weiter unterstützen. Darum bin ich hier, darum war ich vor zwei Tagen in Nürnberg und davor in Salzburg. Man muß optimistisch sein und man darf nie aufgeben. Am Ende steht dann die Entscheidung, man macht es oder man macht es nicht.
…
Rieth: Zwischenfrage: das Römische Statut ist nicht perfekt. Was könnte man anders machen?
Ferencz: Jetzt kann man nichts machen. Das wird entschieden, wenn wir das Gericht haben. Ich gebe Ihnen ein Beispiel:
Nürnberg hat nur zwei wichtige Punkte gemacht: Der Erste: Der Krieg selbst ist ein Verbrechen. Der Zweite: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der dritte Punkt war „War crimes“. Das war aber eine alte Geschichte, das war nicht neu. Was ist seitdem passiert?
Problem Aggression. Man sagte: es gab keine Definition von Aggression. Tatsache ist, dass es in Nürnberg anders war, da hat man Aggression festgestellt. Ich sagte, was brauchen wir eine Definition? Hitler hat alle seine Nachbarn attackiert, Frankreich, Belgien, Norwegen, Polen – das ist Aggression. Wir haben das nicht erfunden, sondern vorgefunden. Es war damals wichtig für uns: Krieg ist nicht ein nationales Recht, sondern ein internationales Verbrechen, das war der Hauptpunkt in Nürnberg. Und was passierte in Rom? Wir müssen die Antwort zurückstellen, bis wir eine Definition haben. Ich habe ein paar Bücher zum Thema Aggression geschrieben, es gibt einen Konsens über die Definition, die in vierzig Jahren bei den Vereinten Nationen ausgearbeitet worden war. Zu sagen, es gibt keine Definition, scheint mir ein bisschen komisch zu sein. Dass die Definition lausig ist, ist klar, aber zu behaupten, es gibt keine, ist nicht wahr.
Nun müssen erst 60 Staaten ratifizieren, dann muss es eine Zulassungskonferenz geben, dann müssen acht Jahre vergehen, und dann kann man wieder darüber diskutieren. Wenn Sie jetzt eine Aggression begehen wollen, dann ist jetzt die richtige Zeit! Es gibt jetzt kein Gericht, dass dies behandeln kann. Es ist skandalös. Krieg selbst ist das größte Verbrechen. Im Krieg passieren alle Verbrechen. Im Krieg passieren alle Menschenrechtsverletzungen. Und zwar in jedem Krieg, und es wird in jedem Krieg passieren.
Ich war in Rom dabei; ich habe gesehen, dass gestritten wurde; aber wir haben gesagt: Wir machen es, mit allen Fehlern. Das Jugoslawientribunal, das Ruandatribunal hat Fehler, aber sie schreiben Recht. Ganz wichtig ist: Hat man einen Prozess angefangen, um ihm eine Richtung zu geben, dann die Antwort ist ja, machen wir weiter.
…
Ergänzung Rieth (Zusammenfassung) ein großes Thema ist auch Terrorismus. Warum ist Terrorismus nicht aufgenommen. Man kann nur mitentscheiden, wenn man mitmacht, in acht/neun Jahren, ist Terrorismus ein Thema. Man muss daher die Staaten gewinnen.
Ferencz: Alle Soldaten, die Verbrechen verdächtigt werden, müssen vor Gericht gebracht werden können; es ist doch nicht sicher, ob sie auch schuldig sind. Wir leben noch im „Wilden Westen“. Langsam erst kommen wir dahin: Was sind die Gesetze, wer soll entscheiden, wie wird das durchgesetzt. Vorläufig sind wir noch am Anfangsstadium, vielleicht dauert es ein Jahr, vielleicht dauert es noch hundert Jahre, ich weiß es nicht.
Die Amerikaner bombardieren Kosovo. Warum haben sie das getan? Sie wollten nicht Jugoslawien besetzen, sie wollten keine Invasion haben. Sie haben gedacht, wenn wir etwas tun, dann werden die Leute aufhören, die anderen zu jagen. Wir haben gesagt, sie sollen das nicht tun. und sie haben gesagt, wir tun es nicht, aber tun es weiter. Der Sicherheitsrat war nicht interessiert, also machen sie weiter. Sie sehen, dass Leute getötet werden, aber sie machen weiter.
Die Gesetzgebung von Den Haag sagt im Prinzip: alles ist verboten, außer es ist genehmigt. Wir Amerikaner haben das geschrieben. Aber wir haben es selbst nicht akzeptiert. Ist es Selbstverteidigung, nein es ist nicht Selbstverteidigung. Es ist eine nicht genehmigte Attacke. Nach meiner Meinung ist es eine Aggression. Aber was sollte man tun? Nichts tun? Man muss sagen: Man muss die Regeln ändern, nicht die Leute sterben lassen. Das ist unmoralisch. Aber man hat nie ein Einverständnis eingeholt, unter welchen Umständen kann ein Staat ohne Genehmigung des Sicherheitsrates intervenieren zur Verhütung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Diese Regeln sind noch nicht klar, aber sie sind auch nicht kompliziert. Aber man hat noch nicht angefangen, darüber zu diskutieren. Und der Persecuter (Staatsanwalt) hat sich die Sache angesehen und stellt fest, jedes Kriminalgericht braucht ein Motiv, einen Bösen und ein Opfer. Und die Amerikaner sagen: ‚Sie haben die Frechheit, uns Amerikaner anzuklagen? Natürlich haben wir ein paar Leute getötet – Kollateralschäden -, aber was haben wir dafür angerichtet? Wir werden unsere Soldaten nicht der Gefahr aussetzen, darum bombardieren wir aus 14. 000 Meter. Natürlich werden wir Leute töten, tut uns leid.‘
Genau darum sind wir hier und tun etwas. Wer nichts tut geht rückwärts.




