Laudatio: Der Mut zum Recht

Nasrin Sotoudeh erhielt am 08. September 2020 in Berlin den Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbunds (DRB). Der Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour hält zu diesem Anlass ein Plädoyer für die Bekämpfung von Unrecht im Iran und ehrt die Preisträgerin. Quelle: DRB
Laudatio von Omid Nouripour zur Verleihung des
Menschenrechtspreises des Deutschen Richterbunds an Frau Nasrin Sotoudeh
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrte Frau Shojaee,
sehr geehrte Frau Stockinger,
sehr geehrter Herr Lüblingshoff,
sehr geehrte Frau Dr. Rückert,
lieber Herr Lessenthin,
meine Damen und Herren,
Im Herbst 2008 traf ich in der Wohnung eines Freundes in Teheran zu später Stunde zwei Anwältinnen. Sie hatten ein gemeinsames Thema, an dem sie mit großem Engagement arbeiteten. Dieses Thema, das uns den gesamten Abend beschäftigte, war die Hinrichtung von Minderjährigen oder von Menschen, die zur vermeintlichen Tatzeit minderjährig waren.
Das war ein schwieriges Thema, meine Gesprächspartnerinnen waren mit vielen Fällen betraut, sie sprachen davon kenntnisreich und leidenschaftlich. Das Thema war bleischwer und kaum zu verdauen. Ich bewunderte sie, nicht nur, weil sie sich um diese geschundenen Kinder kümmerten, sondern auch weil sie nicht über diese große Ungerechtigkeit klagten, sondern stark rechtlich argumentierten. Ich kam nicht mit allen Windungen des iranischen Strafgesetzbuchs zurecht. Ihre klare Botschaft aber kam unmissverständlich an: Sie kämpften nicht gegen ein Gefühl von Ungerechtigkeit, sondern gegen Unrecht. Sie kämpften dagegen, dass Minderjährige gegen das iranische Recht hingerichtet wurden, aber selbstverständlich auch gegen das internationale Recht, gegen die vom Iran ratifizierte Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Am Ende eines langen, lehrreichen und auslaugenden Gespräches fragte ich sie, ob sie denn selbst aufgrund ihrer Arbeit Repressionen ausgesetzt seien oder gar schon einmal verhaftet worden sind. Eine von ihnen schaute herzlich lachend und verspielt auf ihre Uhr und fragte: „Wann denn das letzte Mal?“
Das ist der Ton des über den Dingen stehenden Spotts, den ich schon oft an vielen Orten von Menschen gehört habe, die es leider gewohnt sind, Unrecht ausgesetzt zu sein.
Die andere der beiden schaute mich allerdings aufgeschreckt an und sagte etwas, das ich nicht erwartet hatte. Sie sagte: „Nein, ich tue nichts Unrechtes. Ich handle ausschließlich im Rahmen des Rechts, auch wenn es oft nicht reicht in diesem Land. Außerdem habe ich zwei kleine Kinder. Denen bin ich verpflichtet.“
Ein Jahr später gingen Millionen Iranerinnen und Iraner auf die Straßen, um gegen die vielleicht plumpeste Wahlfälschung der Geschichte ihres Landes zu protestieren. Viele von ihnen verschwanden in Geheimgefängnissen, andere wurden niedergeschlagen, verhaftet, gefoltert, vergewaltigt, getötet, vertrieben. Eine der beiden Anwältinnen musste nach Europa fliehen, die Vorsichtige vertrat eine Vielzahl von Demonstrierenden der Proteste von 2009 vor Gericht. Am 4. September 2010 wurde sie selbst, wurde Nasrin Sotoudeh, die wir heute ehren, verhaftet, der Vorwurf der „Verbreitung von Propaganda und der Verschwörung zum Schaden der Staatssicherheit“ bescherte ihr eine dreijährige Haft. Während dieser Zeit trat sie regelmäßig in Hungerstreik – zusammengenommen fünf Monate lang – um gegen die Haftbedingungen von allen politischen Gefangenen zu protestieren.

Nasrin Sotoudeh im Jahr 2013 nach ihrer vorzeitigen Entlassung. Sie wurde 2018 erneut verhaftet.
Auf ihre perverse Art wissen Diktaturen sehr wohl, dass sie Unrecht tun, wenn sie Dissidenten einsperren. Sie verraten dies durch die Absurdität der Anschuldigungen, die sie gegen ihre KritikerInnen erheben, als wollten sie die wahre Absicht ihrer Verfolgung verschleiern. Das Ergebnis ist natürlich das Gegenteil – die zum Schweigen gebrachte Dissidentin entpuppt sich als Recht schaffende Anklägerin, der Tyrann als Verbrecher.
Nasrin Sotoudeh kam verwandelt aus dem Gefängnis zurück, sie hatte ihre Angst in der Zelle zurückgelassen. Ihre Verwandlung beschrieb sie selbst in einem Brief an ihren kleinen Sohn Nima wie folgt: „Mein lieber Nima, wie hätte ich denn Zeugin der Hinrichtung der Jugend unseres Landes sein und dazu schweigen können? Wie könnte ich dich ruhiger Seele abends ins Bett bringen, während ich weiß, wie andere Kinder gefoltert werden? Mein Sohn, ich konnte das nicht.“
Zwei Tage nach ihrer Entlassung aus dem berüchtigtsten Foltergefängnis des Iran, Evin, stand sie mit einem Protestplakat gegen die Situation der politischen Gefangenen bereits wieder vor dem Justizpalast. Sie hat wieder Mandate angenommen, so viele Angeklagte in aussichtsloser Situation verteidigt, im vollen Bewusstsein, dass das Recht, das sie auf ihrer Seite wusste, oft vor Gericht gar nichts zählt. Ihr Glaube an das Recht aber blieb und bleibt bis heute ungebrochen.
Dieser Mut zum Recht war für das Unrecht unerträglich. Sie wurde überwacht, schikaniert, von ihrer Arbeit abgehalten. Die Zeit vor ihrer zweiten Verhaftung bezeichnete sie selbst als einen „Wechsel in ein größeres Gefängnis“. Als nichts davon sie entmutigen konnte, wurde sie im Juni 2018 erneut verhaftet. Sie wurde der „Spionage, der Verbreitung von Propaganda und der Verunglimpfung des Geistlichen Führers“ beschuldigt, sowie der Mitgliedschaft in einer Menschenrechtsorganisation und dem daraus resultierenden Schüren von „Korruption und Prostitution“.
Sie wurde zu 33 Jahren Haft und 148 Peitschenhieben verurteilt. Doch schon davor war sie die Symbolfigur einer Zivilgesellschaft, der immer mehr die Luft zum Atmen genommen wird.
Ich beglückwünsche aus tiefstem Herzen den Deutschen Richterbund zur Wahl Nasrin Sotoudehs als Trägerin des Menschenrechtspreises des Jahres 2020. Man kann die Frage stellen, warum ausgerechnet sie den Preis bekommt, die sie schon eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, auch andere Preise bereits erhalten hat, wie beispielsweise den Sakharov-Preis des Europäischen Parlaments. Und es gibt auch im Iran so viele andere, die in großer Not sind und unsere Aufmerksamkeit ebenfalls dringend brauchen: Die Journalistin Narges Mohammadi etwa, die aufgrund ihres Kampfes gegen die Todesstrafe im Gefängnis ist und die die ihr zustehende medizinische Betreuung trotz ernsthafter Erkrankung nicht erhält.
Oder der bekannte Ringer Navid Afkari, dem die unmittelbare Exekution droht. Oder Samy Radjabi, dessen Verbrechen darin besteht, als Naturschützer das nationale Symboltier des Iran, den Geparden, vor dem Aussterben retten zu wollen.
Richtig, alle diese Menschen, und es gibt so viele mehr, die man nennen könnte, brauchen unsere Aufmerksamkeit. Aus drei Gründen finde ich die heutige Ehrung von Nasrin Sotoudeh allerdings absolut richtig: Erstens ehren wir heute eine brillante Juristin, die in ihrem Land keine Richterin werden darf, weil dieses Amt für Frauen nicht zugänglich ist. Und die dennoch den Mut hat zum Recht. Wäre sie frei, sie würde die Fälle all der oben genannten vor Gericht übernehmen, um das Recht zu verteidigen. Zweitens ist der Nukleus ihrer Arbeit stets der Kampf um Kinderrechte.
An diesem Abend vor zwölf Jahren sagte sie mir: „Ein Land, in dem Kinder nicht zu ihren Rechten kommen, ist ein Land, in dem niemand zu seinen Rechten kommt“. Damit aber hat sie eine Pionierarbeit geleistet in einem Land, in dem Kinderrechte wahrlich nicht gewährleistet sind. Drittens ist sie, mit ihrem unfehlbaren Sinn für das Recht, natürlich auch Frauenrechtlerin. Am 8. März dieses Jahres schrieb sie aus dem Gefängnis: „Der Iran ist ein Land, in dem die Rechte der Frauen systematisch verletzt werden. Umso wichtiger ist es, den Internationalen Frauentag zu ehren und seiner zu gedenken. An diesem Tag denke ich an die Jahre, die vergangen sind. Die Jahre unseres Schweigens und unserer Gefangenschaft; die Jahre des Protests, der Knechtschaft und der Mauern, hinter denen wir gefangen sind.“
Am Ende aber ist Nasrin Sotoudeh nicht nur die Anwältin der Kinder- und Frauenrechte, sondern aller, denen Rechte systematisch verweigert werden, aufgrund von Herkunft, Glauben, sexuelle Orientierung oder schlicht unangepasster Gedanken. Die immer wieder einkehrende Diskriminierung und Unterdrückung, Verfolgung und Verhaftung iranischer Frauen und zahlreicher anderer marginalisierter Gruppen sind ein Zeichen der Schwäche.

Martin Lessenthin, Presse- und Vorstandssprecher der IGFM und Mansoureh Shojaee, Journalistin und Frauenrechtsaktivistin, welche den Preis stellvertretend für Nasrin Sotoudeh entgegen genommen hat, bei der Preisverleihung. Quelle: DRB
Die brutale Härte, mit der jeglicher Protest weggedrückt wird, soll vor der freien Meinungsäußerung abschrecken. Diese Gewalt bringt so viel Leid, doch sie funktioniert nur auf Zeit. Der Protest bricht sich immer wieder Bahn. Ob zu Hunderttausenden auf den Straßen im ganzen Land, in Film und Kunst, Musik, Literatur, im Fußballstadion oder durch eine Frau, unverschleiert mit weißem Kopftuch als Friedensflagge am Stock auf den Straßen Teherans. Oder eben in der Arbeit einer Rechtsanwältin. Das System lebt in ständiger Angst vor seiner eigenen Bevölkerung. Und das wird auch so bleiben, solange die Iranerinnen ihre überfälligen Rechte nicht bekommen.
In der iranischen Gesetzgebung werden Frauen Männern gegenüber grundsätzlich und massiv benachteiligt: ob beim Sorgerecht, in der Erbschaft oder im Wert ihrer Zeugenaussage.
Der sekundäre Status von Frauen spiegelt sich auch in ihrem eigenen Zuhause wider, da Ehemänner per Gesetz die primäre Kontrolle über die häuslichen Angelegenheiten behalten, natürlich auch über das Geld im Haus. Im ganzen Land haben viele Frauen mit zwangsnormalisierten Mustern von körperlicher wie seelischer Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe zu kämpfen – ein Verbrechen, das im Iran nicht geahndet wird. Dagegen gehen Frauen wie Nasrin Sotoudeh an. Sie hat immer und immer wieder zeigen müssen, dass sie bereit ist für ihre tiefen Überzeugungen einen hohen Preis zu zahlen. Trotz aller Risiken hat sie ihr Leben einem Ziel gewidmet: dem Kampf für Menschenrechte, für einen gerechten Iran für Frauen, Kinder, Minderheiten sowie für die Zivilgesellschaft. Und gegen die Straflosigkeit und für die juristische Aufarbeitung der systematischen Menschenrechtsverletzungen, die in iranischen Gefängnissen seit Jahrzehnten begangen werden. Nicht zuletzt drückt sich in ihrer Arbeit aber auch die Hoffnung aus, dass es eines Tages einen Iran nach ihrem Vorbild geben kann, der Kinder schützt, und in dem Frauen und Minderheiten gleichberechtigt sind. In dem Tyrannei und Willkür der Freiheit und dem Recht weichen müssen.

Die Preisverleihung am 08.09.2020 in Berlin mit Dr. Wiebke Rückert, Leiterin des Referats für Menschenrechte des Auswärtigen Amts, Joachim Lüblinghoff, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, Mansoureh Shojaee, Journalistin und Frauenrechtsaktivistin, Omid Nouripour, Bundestagsabgeordneter, Barbara Stockinger, Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Martin Lessenthin, Vorstands- und Pressesprecher der IGFM (v.l.n.r.). Quelle: DRB
Meine Damen und Herren, der Hungerstreik ist ein äußerstes Mittel der Mittellosen gegen das Unrecht. Seit nun 25 Tagen ist Manouchehr Bakhtiari in Hungerstreik. Er ist der Vater von Pouya Bakhtiari, der im letzten Jahr bei den November-Protesten erschossen wurde. Pouya wurde 27 Jahre alt. Er ist mittlerweile das Gesicht der mehr als 1.500 auf der Straße Getöteten des letzten Jahres. Es ist zu befürchten, dass noch viele andere in den Gefängnissen gefolgt sind oder noch folgen werden. Manouchehr Bakhtiari wurde auf dem Weg zu einem Inlandsflug verschleppt, schlicht weil er Gerechtigkeit für seinen Sohn eingefordert hat. In den Monaten vorher waren seine Frau und er unbeschreiblichen Repressionen ausgesetzt. Bei einer Razzia in seinem Haus wurde sogar seine 80-jährige Mutter verprügelt. Das ist nicht nur ungeheuerlich, sondern auch nach iranischem Recht skandalös. Wenn die Forderung nach Recht schon verfolgt wird, dann ist das Unrecht überall.
Ich weiß nicht, ob Herrn Bakhtiaris Hungerstreik mit dem von Frau Sotoudeh zusammenhängt. Aber sie befindet sich in Lebensgefahr. Sie ist derzeit im Hungerstreik, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen für die katastrophalen Zustände nicht nur, aber vor allem der politischen Gefangenen im Iran, gerade in Zeiten der Pandemie. COVID-19 grassiert in iranischen Gefängnissen, statt Abhilfe bekommen die Insassen schlicht die Ignoranz der Zuständigen.
Nasrin Sotoudehs Hungerstreik muss Angst und Schrecken bei den Herrschenden hinterlassen haben. Denn vor wenigen Tagen ist ihre Tochter Mehraveh zu Hause abgeholt und für mehrere Stunden festgehalten worden. Es droht ihr ein Strafverfahren. Ihr Vater Reza Khandan durfte sie begleiten. Ich kann nur ahnen, wie es ihm dabei ergangen ist. Und ich kann nur ahnen wie es dem jüngeren Bruder Nima ergangen sein muss zu glauben, dass nach der Mutter nun auch die Schwester nicht mehr nach Hause kommen könnte.
Ihre Kinder sind Nasrin Sotoudehs kostbarster Schatz. Es ist schmerzvoll, ihre Briefe an ihre Kinder, die ihr Ehemann regelmäßig veröffentlicht, zu lesen. Es ist schlicht herzzerreißend, das heimlich aufgenommene Video vom Besuch der Kinder im Gefängnis nach der Urteilsverkündung anzuschauen. Da sieht man zwei zurecht betrübte Kinder auf der einen Seite des Plexiglases.
Auf der anderen wiederum sieht man diese unmenschlich starke, und doch so zerbrechlich anmutende Frau, die nach Clowns-Manieren ihrem Sohn die Nase klaut, und in ihrer Faust versteckt, um ihn zum Lachen zu bringen. Das Unrecht, das bei einer so liebenden Mutter, die nach ihren Kindern trachtet, will nicht nur ihren Willen brechen, es hat vor allem Angst vor ihr. Und vor ihrem Mut zum Recht.
Unsere heutige Preisträgerin befindet sich in diesem Augenblick in Lebensgefahr. Die Außenministerin Schwedens fordert ihre sofortige Freilassung. Ich wünschte mir, dass sich ihr mehr europäische Außenminister anschließen. Der Deutsche Richterbund ehrt heute mit Nasrin Sotoudeh eine Frau, deren Mut zum Symbol geworden ist für den Kampf für das Recht. Vor diesem unglaublichen Mut zum Recht verneige ich mich. Möge sie bald frei, möge sie bald nach Hause kommen. Ihre Kinder Mehraveh und Nima brauchen sie, ihr Mann Reza braucht sie. Millionen von Iranern und vor allem Iranerinnen brauchen sie.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.