Rechtsverständnis im Islam

von Anne Duncker

Über 50 Jahre nach der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) durch die Vereinten Nationen ist ein wirklicher Konsens über einen weltweit anerkannten Rechtekatalog noch nicht in Sicht. Vielmehr ist die Geschichte der UNO-Dokumente geprägt von kontroversen Diskussionen über den Stellenwert von liberalen Freiheitsrechten („Erste Generation“), sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Teilhaberechten („Zweite Generation“) und Rechten der „Dritten Generation“ (Entwicklung, Frieden, Umweltschutz). Verständnisse von Menschenrechten stehen zudem häufig im Zusammenhang mit dem politischen, religiösen oder kulturellen Hintergrund der Beteiligten.

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie der Islam das Verständnis von Menschenrechten prägt. Zu Recht wird immer betont, dass es nicht den einen Islam und somit auch nicht das eine islamische Menschenrechtsverständnis gibt. Natürlich gibt es viele Muslime, die das Menschenrechtsbild der AEMR uneingeschränkt befürworten und zahlreiche UNO-Abkommen sind von islamischen Staaten unterzeichnet worden. Dennoch gibt es zwei weltweit verbreitete islamische Menschenrechtserklärungen, deren Rechtekataloge deutlich von der Allgemeinen Erklärung abweichen: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam (1981) herausgegeben vom Islamrat für Europa und die Kairoer Erklärung der Organisation der Islamischen Konferenz (1990).

Diese Unterschiede zeigen sich im generellen Rechtsverständnis und daraus resultierend vor allem in den Bereichen der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Religionen. Beide herausgebenden Organisationen können als streng konservativ gelten. Eine islamische Menschenrechtserklärung einer liberalen bzw. progressiven Organisationen mit weltweitem Bekanntheitsgrad fehlt bislang.

Die AEMR betrachtet jeden Menschen qua seines Menschseins automatisch als Rechtsträger in vollem Umfang, ohne dass die Rechte erst durch eine weltlich oder religiöse Instanz verliehen werden. Das Rechtsverständnis der islamischen Erklärungen hingegen zeichnet sich durch einen klaren Gottesbezug aus und betrachten alle Rechte als von Gott verliehen. Somit sind sie auch aufgrund religiöser Maßgaben einschränkbar. Höchst problematisch ist die Tatsache, dass beide Erklärungen die Scharia über jedes andere Rechtsdokument stellen. Besonders deutlich wird dies in Art. 24 der Kairoer Erklärung, in dem es heißt: „Alle in dieser Erklärung aufgestellten Rechte und Freiheiten unterliegen der islamischen Scharia.“ Einschränkungen von Rechten können also immer mit Vorgaben der Scharia gerechtfertigt werden

Der deutlichste Unterschied zur allgemeinen Erklärung findet sich in der Rechtsträgerschaft. Die große Errungenschaft der AEMR, nämlich dass ihre Rechte für alle Menschen gleichermaßen gelten, wird von den islamischen Erklärungen negiert. Es wird eine Rechtehierarchie aufgebaut, die Männern mehr Rechte zugesteht als Frauen und Muslimen mehr Rechte als Nichtmuslimen. Dies untergräbt in grundlegender Weise den so wichtigen ersten Artikel der AEMR: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Weitere Unterschiede bestehen darin, dass die islamischen Erklärungen stärker auf kollektive Rechte abstellen als die AEMR und „Menschenpflichten“ deutlicher in den Mittelpunkt stellen, wie es übrigens auch in der afrikanischen Menschenrechtscharta (Banjul 1981) der Fall ist. In diesen Punkten haben die UNO-Dokumente außereuropäische Verständnisse von Menschen- und Völkerrechten bislang zu wenig berücksichtigt.

 

Gleichberechtigung von Frauen und Männern

Besonders im Bereich der Frauenrechte unterscheiden sich die Auffassungen traditionalistischer, konservativer und modern-liberaler Muslime enorm. Es ist richtig, dass der Koran, wie oft erwähnt wird, für die Zeit seiner Entstehung sehr fortschrittliche Rechte für die Frauen festlegte. Nach heutigem Menschenrechtsverständnis reicht es jedoch nicht aus, sich auf die damalige Fortschrittlichkeit zu berufen, wenn diese nach heutigen Standards viele diskriminierende Elemente enthält. Konservative Muslime unterscheiden die Rechtsstellung und auch die Lebensaufgabe der Frauen jedoch weiterhin grundsätzlich von jenen der Männer.

Diesen Ansatz spiegeln beide Erklärungen wider, indem sie den Männern eine deutlich höhere Rechtsstellung zuschreiben. Frauen wird zwar die gleiche menschliche Würde, nicht jedoch die gleichen Rechte zugestanden. Konkret manifestieren sich die Rechtseinbußen im Prozess- und Erbrecht sowie im Familienrecht, was insbesondere bei der Erziehung der Kinder und im Falle einer Scheidung von Bedeutung ist. Zudem werden Frauenrechte nur als Rechte von Ehefrauen festgelegt (Art. 20 AEMRI: „Die Rechte der Ehefrau“). Dass eine Frau frei entscheidet, unverheiratet zu bleiben, ist schlicht nicht vorgesehen. Aus Sicht der internationalen Menschenrechtserkärung mag es fast verwundern, dass die Ungleichheit von Männern und Frauen so deutlich in einem Menschenrechtsdokument festgeschrieben wird, wie in der AEMRI. Dort heißt es in Artikel 19a: „Die Frauen haben dasselbe zu beanspruchen, wozu sie verpflichtet sind, in rechtlicher Weise. Und die Männer stehen eine Stufe über ihnen“ (nach Sure 2, 228). Weiterhin heißt es in Artikel 20b nach Sure 34, 4: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott die einen von ihnen (die Männer) bevorzugt hat (…).“ In der Kairoer Erklärung klingt der „Gleichheitsgrundsatz“ aus Artikel 6 folgendermaßen: „Die Frau ist dem Mann in ihrer menschlichen Würde gleichgestellt und hat Rechte und Pflichten.“ Der Versuch einer moderaten Formulierung kann nicht die Kernaussage dieses Satzes verdecken: Männer und Frauen besitzen die gleiche Würde, jedoch nicht die gleichen Rechte.

Eine grundlegende Gleichheit von Männern und Frauen gemäß dem Verständnis der AEMR wird nicht vertreten, sondern im Gegenteil offen abgelehnt. Jene Rechte, die Männern und Frauen gleichermaßen zustehen, sind eher moralische Verpflichtungen als Rechte im juristischen Sinn. Eine wichtige Ausnahme bildet nur Artikel 19i AMERI, welcher Männer und Frauen gleichermaßen vor einer erzwungenen Ehe schützt.

 

Religionszugehörigkeit

Bei der Frage nach den Rechten von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit präsentiert sich ein ähnliches Problem wie bei der Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter: Es wird anerkannt, dass alle Menschen gleich an Würde sind, jedoch nicht gleich an Rechten. Dabei verläuft die Rangfolge klar von Muslimen, welche am meisten Rechte besitzen, über Juden und Christen mit eingeschränktem Rechtsstatus, hin zu anderen Religionszugehörigen und Atheisten, mit den wenigsten Rechten. Konkret manifestieren sich die Rechtseinbußen insbesondere in den Bereichen der Religionsausübung, des Familienrechts und der freien Meinungsäußerung.

In beiden islamischen Erklärungen gelten also nicht alle Rechte in gleichem Maße für alle Menschen. Mit der Einschränkung des Gleichheitsgrundsatzes wird der Menschenrechtsidee ein essentieller Teil entzogen. Die Gleichheit ist ein Rechtsgut, welches nicht teilbar ist und nicht aufgrund der Religion oder des Geschlechts modifiziert werden darf. Denn dadurch, so die bekannte Islamwissenschaftlerin Ann Elizabeth Mayer, wären wir schnell bei einer Gleichheit wie jener der Tiere in George Orwells „Animal Farm“: Alle sind gleich, aber manche sind gleicher.

 


(Credit Vorschaubild: Ali Mansuri, Wikipedia, CC BY 2.5. )

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