„Ich habe zu Gott gebetet, dass meine Bäume standhalten“

Interview vom 12. Juli 2022

Oleksij Sydorenko

Liudmyla Lomejko, eine Einwohnerin von Moschun (Dorf in der Region Kyjiw), übermittelte ihrem Sohn, der heute in den Streitkräften der Ukraine dient, in den ersten Kriegstagen die Koordinaten des Feindes. Sie betete, dass die Bäume, die sie mit ihren eigenen Händen gepflanzt hatte, standhalten würden.

– Ich heiße Liudmyla. Ich wurde 1939 geboren. Ich erinnere mich an den Zweiten Weltkrieg und wie er endete. Ich erinnere mich, wie die Deutschen, die Rumänen und die Italiener in unser Dorf kamen. Und später – wie sie sich zurückzogen. Es war in der Region Mykolajiw, in der Nähe des Südlichen Bug (ukrainischer Fluss). Migija (ein Dorf in der Region Mykolajiw) liegt am Ufer des Südlichen Bug, und so haben wir dort gelebt und den Krieg überlebt.

– Wie haben Sie vor dem aktuellen Krieg gelebt?

– Wir haben 2006 ein Haus gekauft und ich wohne hier (in Moschun). Ich bin Rentnerin. Ich habe in meinem Garten gearbeitet. Als wir das Haus gekauft haben, gab es hier nichts. Alles Gemüse und Obst, das Sie hier sehen, habe ich selbst gepflanzt. Ich säge auch Brennholz, bereite es vor und trage es selbst zum Haus.

– Hätten Sie sich vorstellen können, dass Russland die Ukraine angreift?

– Nein, das hätte ich mir nicht vorgestellt. Es gab viele Interviews mit Selenskij im Fernsehen, er sagte: „Keine Panik, Russland wird nicht angreifen“. Alle im Fernsehen sagten, es werde keinen Krieg geben. Und ich war mir sicher. Ich habe gleich nach dem Angriff der russischen Truppen angefangen, den Notfallkoffer zu packen. Das Einzige, was ich vor dem Krieg gemacht habe, war, drei Engel zu zeichnen und zwei davon an diesen Baum zu hängen und den dritten an jenen Baum. Und der dritte Engel hatte einen gebrochenen Flügel, so habe ich ihn gezeichnet. Und ich dachte damals: „Warum habe ich ihn mit einem gebrochenen Flügel gemalt?“ Und später schlug eine Granate in mein Haus ein. Es war also ein prophetischer Engel. Das ist alles, was ich vor dem Krieg gemacht habe, sonst nichts. Ich war nicht vorbereitet.

– Was haben Sie am ersten Tag des Krieges getan?

– Ich kann Ihnen sagen, was ich getan habe. Ich habe nichts getan. (Sie öffnet ihr Notizbuch und liest) „Um 5 Uhr morgens begann der Krieg mit Russland…“ Normalerweise stehe ich sehr früh auf. Ich stehe um 4 oder 5 Uhr morgens auf. Also beschloss ich, bis zum Ende des Krieges hier (im Dorf) zu bleiben. Ich war mir sicher, dass der Krieg nicht mehr lange dauern würde. Und mein Nachbar war der erste, der mir etwas zu essen brachte. Und ich sagte zu ihm: „Oh, das ist so viel (Essen) – das wird für den Rest des Krieges reichen“. Ich war sicher, dass der Krieg nicht mehr lange dauern würde. Ich habe die ganze Zeit zu Gott gebetet. Ich las die ganze Zeit Psalm 90. Ich betete zu Gott, dass meine Bäume standhalten würden, denn ich hatte sie mit meinen eigenen Händen gepflanzt. Und ich betete auch für mein Haus.

„Am 25. (Februar) um 6.46 Uhr waren Explosionen zu hören. Um 8.18 Uhr gab es eine laute Explosion, aber ich habe nirgendwo Rauch gesehen. Vor der Explosion sind Flugzeuge geflogen. Um 8.20 Uhr hörte ich einen Alarm – das war schon in der Nähe von Kyjiw. Es gab Kämpfe in Hostomel und in Browary (Region Kyjiw). Fünf Schüsse in Moschun. Vier weitere. Fünf Explosionen. Um 20.51 Uhr gab es Kämpfe, Schüsse waren zu hören. Um 22.10 Uhr Kämpfe um Hostomel. Alles stand in Flammen. Rauch bedeckte den Himmel…“ Mein Gott! Der Beschuss war schwer… Sie beschossen uns die ganze Zeit – morgens, abends und nachts.

Ich erinnere mich, wie sie Hostomel und den Flughafen bombardierten. Schwarze Hubschrauber kamen und fingen an zu bombardieren. So große Rauchwolken stiegen auf!

Ich war also im ersten Stock. Mein Sohn rief mich an und sagte: „Mama, bleib im ersten Stock, schau dir die Schießerei an und ruf mich dann an“. Er ist nämlich beim Militär. Ich rief ihn an und erzählte ihm, was ich gesehen hatte. Ich habe ihm gesagt, wo die Hubschrauber geflogen sind. Und dann, nach ein paar Tagen oder so, fingen die Flugzeuge an zu fliegen. Und sie flogen sehr niedrig. Sie bombardierten etwas hinter dem Wald. Sie bombardierten Hostomel.

Von ihrem Fenster aus sah Liudmyla auch die „Mrija“ (ukrainisches strategisches Lufttransportflugzeug) in einem Hangar des Flughafens Hostomel brennen

– Der Hangar war sehr groß für sie (für die „Mrija“). Und sie (die russischen Truppen) warfen Bomben auf den Hangar und er brannte. Alles war in schrecklichen schwarzen Rauch gehüllt. Es sah aus, als würde der Himmel brennen. Aber es sah nicht aus wie das Nordlicht. Und in der Nacht war es sehr gut sichtbar: Ich sah blaue, schwarze, grüne, rote Lichter und so weiter. Ich weiß immer noch nicht, was es war.

– Als Ihr Sohn Ihnen angeboten hat, Sie an einen sicheren Ort zu bringen, was haben Sie ihm gesagt?

– Ich sagte, ich würde nicht gehen. Ich wollte nicht gehen. Ich dachte, der Krieg wäre bald vorbei. Aber das war erst der Anfang. Dann kamen die Leuchtspurgeschosse, die Granatsplitter, die zerbrochenen Fensterscheiben und so weiter. Ich saß im Keller und dachte: „Was ist, wenn ein dreistöckiges Haus auf mich fällt und niemand da ist, um mich zu retten?“ Alle Nachbarn waren weg. Ich bin durchs Dorf gelaufen und habe Leute gesucht. Und ich dachte: „Warum ist hier niemand?“

Mit einer Tasse Kaffee ging ich zu meinem alten Nachbarn Mykhajlo, um heißes Wasser zu holen, denn er hatte einen Generator und heißes Wasser. Und als ich das erste Mal bei ihm war, waren sieben ukrainische Soldaten in seinem Haus. Sie tranken Kaffee und kochten ihn für mich. Und ein junger Soldat sagte: „Ich bin ein professioneller Bandura-Spieler (ukrainisches Volksinstrument)“. Seine Finger waren so dünn. Er selbst sah so dünn und zerbrechlich aus. Er sah aus wie 18 Jahre alt. Aber er war schon Soldat.

– Was ist mit Ihrem Haus passiert?

– Es wurde von einer Granate getroffen. Es gab eine laute Explosion. Ich war gerade in der Küche. Ich habe nicht nachgeschaut, was passiert ist. Erst am Morgen habe ich gesehen, dass das Haus schwer beschädigt war. Alle Fensterscheiben waren zerbrochen, die Tür war zertrümmert und auch die Decke war beschädigt. Das Dach und die Decke waren durchlöchert. Es regnete ein wenig, so dass es überall tropfte. Einmal schlug eine große Granate in der Nähe ein. Zwei Fensterscheiben gingen zu Bruch. Sie (die russischen Truppen) haben auf die Fenster geschossen. Zuerst waren runde Löcher in den Fenstern. Und dann, als die Scheiben raus waren, waren da keine Löcher mehr. Ich habe im Haus Eisenstangen gefunden, die an einer Seite spitz waren. Ich habe sie weggefegt. Ich wusste nicht, was das war. Ich nahm sie mit und versuchte herauszufinden, was es war: Geschosse oder Granatsplitter oder etwas anderes. Granatsplitter steckten im Fensterrahmen. Ich fand auch einen Granatsplitter in meinem Haus. Ich habe alles auf einen Haufen gefegt. Ich konnte das Haus nicht mehr verlassen. Ich weiß nicht, wie, aber schließlich schaffte ich es nach draußen, um das Gas abzustellen. Ich ging durch die Garage und kroch auf allen Vieren hinaus. Ich hatte das Gefühl, dass wir 24 Stunden am Tag bombardiert wurden. Es hörte nie auf. Tag und Nacht. Und alles brannte. Der Himmel war voller Rauch. Ich trug zwei Jacken, warme Stiefel, Pullover, zwei Schals und einen Hut. Und so war es. Ich konnte draußen nicht einmal etwas zu essen kochen. Denn die ganze Zeit flog etwas, schlug etwas ein. Wenn man sich mein Haus anschaut und sieht, wie kaputt es ist, dann versteht man, wie stark sie (die russischen Truppen) bombardiert haben. Wenn ich rausgegangen wäre, wäre ich sofort getötet worden.

– Als eine Granate Ihr Haus traf, haben Sie da daran gedacht, das Dorf zu verlassen?

– Nein, daran habe ich nicht gedacht.

– Warum?

– Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich würde bis zum Ende des Krieges im Dorf bleiben. Und dann schlugen die Granaten ein und es war hart. Überall flogen Raketen, sie machten ein unangenehmes Geräusch. Wir wussten auch, dass irgendwo diese Orks waren (die Ukrainer nennen die russischen Soldaten „Ork(s)“ und vergleichen sie mit den Monstern aus „Herr der Ringe“), und irgendwo in der Nähe waren unsere Soldaten. Und alle haben mir am Telefon gesagt: „Das war’s! Die Ukraine wird eingenommen! Kyjiw wird eingenommen!“ Ich antwortete: „Auf keinen Fall! Sie (die russischen Truppen) können nicht einmal mein Dorf durchqueren. Wie sollen sie nach Kyjiw kommen? Das wird nie passieren!“ Ich war so zuversichtlich! Und tatsächlich wurden sie aufgehalten. Sie waren weg.

Während der Besetzung kam das russische Militär in Liudmylas Haus.

– Nun, ich sah sie – fünf Menschen – durch mein Tor kommen. Fünf waren auf der Straße, fünf waren im Hof meiner Nachbarn und fünf kamen zu meinem Haus. Ich schaute aus dem Fenster und sah sie. Der Kleinste von ihnen ging zuerst und sah so ängstlich aus. Das war lustig, also lachte ich und öffnete das Fenster. Und sie fragten: „Wohnen Sie hier?“ Ich antwortete: „Ja, ich wohne hier“. Sie waren alle jung, alle um die zwanzig Jahre alt. Einer von ihnen – groß und jung – sagte: „Wir dachten, das sei eine Kirche. Ich antwortete: „Nein, das ist mein Haus, ich lebe hier. Wenn man das Leben nennen kann“. Und sie fragten: „Ist noch jemand im Haus?“ Ich antwortete: „Hier ist niemand“. „Haben Sie Wasser?“ „Ja“. „Geben Sie es uns“.

Ich ging rein, um Wasser zu holen. Als ich mit einer Flasche Wasser wieder herauskam, waren sie schon weg. Und ich sagte: „Leute, ergebt euch! Und ihr behaltet euer Leben“. Und einer von ihnen – der Größte – winkte nur mit der Hand, als ob es ihm egal wäre, und sie gingen weg. Bis zum Abend trieben sie sich herum, und am Morgen kamen zwei Männer zu mir, Wladymir und Jaroslaw. Sie sagten, sie (die russischen Truppen) hätten das Dorf verlassen.

Einige Tage später überredeten ukrainische Soldaten Liudmyla, sie an einen sicheren Ort zu bringen.

– Ja, am 13. März holten mich unsere Soldaten ab. Sie haben einen toten Soldaten und mich mitgenommen. Sie kamen also hierher zurück, um mich rauszuholen. Sie mussten mich an der Hand rausziehen, weil ich nicht gehen wollte.

– Hat sich Ihre Einstellung zu den Russen verändert?

– Nun, wie ist meine Einstellung? Ich habe keinen Hass im Herzen. Aber das ist meine Meinung und ich zwinge sie niemandem auf. Sie (die Russen) sind Menschen mit anderen Gehirnen. Sie sind Menschen, die nach dem Blut anderer Menschen dürsten. Man sagt, sie seien zombifiziert, aber nein, das sind sie nicht! Man kann Menschen mit funktionierenden Gehirnen zombifizieren. Aber sie sind nicht zombifiziert, sie haben Durst nach dem Blut anderer Menschen. Als es noch Fernsehen gab, habe ich gesehen, wie sie (die Russen) in ihren Städten interviewt wurden. Und ihre alten Männer und Frauen wie ich sagten: „Alle Nationen beneiden uns Russen. Wir haben eine besondere Seele“. Das ist wahr! Sie haben eine besondere Seele. Sie sind nicht zombifiziert. Dieser Durst liegt in ihren Genen. Das ist meine Meinung. Ich zwinge sie niemandem auf. Ich kann sagen, was ich will, weil ich keine Angst habe, für meine Worte ins Gefängnis zu kommen. Ich bin schon 83 Jahre alt, ich habe nicht mehr viel zu verlieren.

Das Interview wurde von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe vorbereitet und von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte übersetzt.

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