Afghanistan: Der Verlierer ist das Volk

Was passiert, wenn die Amerikaner Afghanistan verlassen? Nach einem langen Krieg werden die Taliban wieder die Oberhand gewinnen. War dann alles sinnlos? Überlassen wir da gerade wieder unschuldige Menschen, Frauen, Mädchen, Demokraten, gesetzestreue Polizisten und Soldaten, Intellektuelle, religiöse und sexuelle Minderheiten ihrem Schicksal? Ein Kommentar von Martin Lessenthin, IGFM-Vorstandssprecher.

Unsere Freiheit werde auch am Hindukusch verteidigt – diese Formel des ehemaligen Verteidigungsministers Struck vom 11. März 2004 hat sich eingeprägt. Diese Auffassung wurde bisher von der Mehrheit der politischen Kräfte in Deutschland geteilt und immer dann herangezogen, wenn es um deutsche Truppenunterstützung der NATO-Partner in Afghanistan ging. So stellte Deutschland nach den USA die zweitgrößte Militärpräsenz vor Ort – aktuell sind dort noch 1.100 deutsche Soldaten stationiert.

Im Laufe der Jahre hat Deutschland die afghanische Bevölkerung auf vielfältige Weise unterstützt: So wurden unter anderem Entwicklungsprojekte geschützt, Schulen und die Trinkwasserversorgung aufgebaut, Lehrer ausgebildet und Straßen wieder instandgesetzt. Religiöse und ethnische Minderheiten konnten aufatmen, demokratische Institutionen wurden unterstützt, Bildung eröffnete den Kindern eine Zukunft und afghanische Frauen erfuhren erstmals, was Chancengleichheit bedeuten könnte.

Etliche Erfolge konnten erzielt werden, aber natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein. Denn was zuerst als sechsmonatige Friedensmission gedacht war, dauert letztendlich Jahrzehnte und hat 59 deutschen Soldaten das Leben gekostet. Die US-Streitkräfte beklagen sogar 2300 Gefallene. Es war der bisher verlustreichste Einsatz der Bundeswehr und der zweitlängste nach der Kosovo-Mission. Man hatte lange den Eindruck, als ob der Einsatz nie enden würde. Der Militäreinsatz der Deutschen Bundeswehr war nicht billig: von 2001 bis Ende 2020 entstanden 12,5 Milliarden Euro Kosten.

Nun haben sich aber die USA zum endgültigen Abzug aus Afghanistan entschlossen. Die Hoffnung auf eine Stabilisierung Afghanistans unter Führung der afghanischen Verbündeten scheint bei der westlichen Führungsmacht gestorben zu sein. Bis zum 11. September soll alles abgeschlossen sein. Ein historisches Datum, das schließlich zum Einsatz in Afghanistan geführt hat. So schließt sich der Kreis. Zieht die amerikanische Führungsmacht ab, folgen die NATO-Partner, Deutschland eingeschlossen.

Ein beklemmender Gedanke drängt sich auf: Überlassen wir da gerade wieder unschuldige Menschen, Frauen, Mädchen, Demokraten, gesetzestreue Polizisten und Soldaten, Intellektuelle, religiöse und sexuelle Minderheiten ihrem Schicksal? Lassen wir sie brutal im Stich, weil sich unsere Interessen oder die unserer Verbündeten geändert haben? Machen sich die Verantwortlichen Gedanken über die Menschen, die wir zurücklassen?  Ich muss gestehen, für mich entsteht genau dieser Eindruck, dass Afghanistan letztendlich wieder sich selbst überlassen wird, ohne Rücksicht auf die Folgen.

Bisher führt Deutschland Asylsuchende aus Afghanistan in das Land zurück, darunter konvertierte Christen, Hindus und Homosexuelle. Doch in Hinblick auf den Abzug möchte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer afghanischen Ortskräften, die der Bundeswehr geholfen haben, in Deutschland Schutz und eine Zukunft bieten. Gefragt hat die Ortskräfte niemand, ob sie ihre Heimat überhaupt verlassen wollen, doch werden sie nun durch den Abzug dazu gezwungen, obwohl sie eigentlich nur helfen oder Geld verdienen wollten. Können sie sich weiterhin auf Deutschland verlassen? So mancher afghanische Dolmetscher wird sich nun fragen: Wie viel gilt das Wort der selbsternannten „Verteidiger von Freiheit und Menschenrechten“, die den Afghanen zwei Jahrzehnte lang Hoffnungen auf ein besseres Leben gemacht haben und sie nun wieder den Taliban, Al-Qaida und IS überlassen?

Hunderttausende afghanische Sicherheitskräftewurden inzwischen ausgebildet. Zweifel bestehen, ob dies ausreicht, um die Extremisten an der Zerstörung des Erreichten zu hindern? Wird der Terror gegen die Zivilbevölkerung zurückkommen und alle Erfolge wieder zunichtemachen? Ist die Herrschaft der Taliban nach dem Abzug noch aufzuhalten? Diese Fragen müssen wir uns stellen – nicht nur wegen unserer moralischen Verantwortung, sondern auch, da unsere Freiheit, wie bekannt, auch am Hindukusch verteidigt wird.

Der Kommentar erschien am 29.04.2021 im Debatten-Magazin The European.

Über den Autor

Martin Lessenthin ist seit 2000 Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und seit 2001 Sprecher des Vorstands und Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte.

2016 und 2020 wurde er vom Deutschen Bundestag als stimmberechtigtes Mitglied ins Kuratorium des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) gewählt.

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