Strafmündigkeit und Hinrichtungen Minderjähriger im Iran

von Nasrin Sotoudeh, Rechtsanwältin, Trägerin des Sacharow-Preises des Europäischen Parlaments und IGFM-Kuratoriumsmitglied, Iran

Im Iran, dem Land, in dem ich als Rechtsanwältin tätig bin, werden leider sehr viele Menschen hingerichtet. Bedauerlich ist außerdem die Tatsache, dass manchmal Personen hingerichtet werden, die zum Zeitpunkt des Verbrechens unter 18 Jahren alt waren. Die meisten von ihnen werden wegen Totschlags hingerichtet, der aus dem Affekt heraus während einer Auseinandersetzung auf der Straße begangen wurde. In den meisten Fällen spielen jugendliche Beweggründe eine Rolle. Dazu gehören zum Beispiel leichte Reizbarkeit, jugendlicher Stolz oder auch sexuelle Triebe.

Gemäß den Gesetzen, die nach der Islamischen Revolution im Iran beschlossen wurden, können Mädchen ab neun und Jungen ab 15 Jahren zum Tode verurteilt und hingerichtet werden. Bis vor kurzem konnten nur die Eltern des Geschädigten – selbst ein Richter nicht – das Todesurteil gegen einen Jugendlichen abmildern. Somit befinden sich die Eltern des Geschädigten in einer Situation, die eine Entscheidung äußerst schwierig macht.

Gegen dieses Gesetz wird seit fast 40 Jahren von Rechtsanwälten, Menschen- und Kinderrechtsaktivisten protestiert. Ihr Engagement führte schließlich 2013 zu einem neuen islamischen Strafgesetz. Auch wenn in diesem Gesetz das Strafmündigkeitsalter bei Verstößen, die zu den sogenannten Hadd- und Qisas-Strafen gezählt werden können, unverändert blieb, gab es jedoch eine wichtige Änderung: Nach § 91 dieses neuen Gesetzes kann ein Richter auf ein Todesurteil verzichten, wenn bezweifelt wird, dass die Tat von einem Jugendlichen begangen wurde, der bei klarem Verstand war. Dies muss entweder ein Richter oder ein von einem Richter beauftragter Gerichtsmediziner beurteilen.

Das neue Strafgesetz löste eine Welle der Freude unter den Kinderrechtsaktivisten aus, weil nun zukünftig keine Jugendlichen hingerichtet werden müssten. Zusätzlich erlaubte dieses Gesetz Richtern und Gerichtsmedizinern, durch die Verhinderung von Hinrichtungen Jugendlicher endlich die ihnen angemessene berufliche Rolle zu spielen. Dadurch, dass Richter und Mediziner vereidigt sind, um menschliches Leben zu schützen und die Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu sichern, ist die Freude des Rechtswesens und der Menschenrechtsaktivisten nicht unbegründet gewesen. Trotzdem wundern wir uns, dass seit 2013 immer wieder eine hohe Anzahl Jugendlicher unter 18 Jahren hingerichtet wird. Was ist also passiert?

In diesem Artikel wird versucht, die oben genannte Frage zu beantworten. Warum werden trotz des neuen islamischen Gesetzes immer noch Personen unter 18 Jahren hingerichtet? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir beim Gesetz selbst anfangen:

Nach §146 des islamischen Strafgesetzes sind „Minderjährige“ nicht strafmündig. Nach §147 des gleichen Gesetzes sind Mädchen ab 9 Jahren, Jungen ab 15 Jahren strafmündig.

Zusätzlich werden Strafen im islamischen Strafgesetz in vier verschiedene Gruppen eingeteilt:

1. Tazir (Ermessenssache/ Ermessensspielraum)

2. Hadd – Strafen

3. Qisas (Vergeltung)

4. Diya (Ausgleichszahlung)

Die Strafen aus den Gruppen 2 und 3 entstammen den [sogenannten] göttlichen Regeln. Der iranische Staat fühlt sich verpflichtet, für den Schutz dieser Regeln und deren vollständige Durchsetzung zu sorgen. Im Falle der Anwendung von Tazir (Ermessenssachen) nutzen die Richter manchmal ihren Spielraum, um die Höhe der Strafe festzusetzen. Manchmal jedoch reduzieren sie das Maß der Strafe.

Die maßgeblichen Probleme bei der Bestrafung von Jugendlichen, insbesondere bei Urteilen, die zur Hinrichtung führen, sind:

1. Das offizielle Gesetz Irans sieht das Pubertätsalter von neun Jahren für Mädchen und 15 Jahren für Jungen als unstrittig an, da dies durch die Scharia so definiert wird.

2. Dieses Gesetz fordert, dass Hadd und Qisas ohne jede Rücksicht, Flexibilität und Berücksichtigung eventueller Vorstrafen angewendet werden müssen.

3. Obwohl §91 des islamischen Strafgesetzes Richter und Rechtsmediziner ermächtigt, Jugendliche wegen eines unklaren Verstandes nicht hinzurichten, machen sie von dieser Möglichkeit selten Gebrauch. Weil Richter oder Rechtsmediziner trotz ihrer Vereidigung Jugendliche als zurechnungsfähig erklären, führen sie diejenigen, die zum Zeitpunkt der Tat 15 oder 16 Jahre alt waren, schließlich zur Hinrichtung.

In einem Fall, als die Akte in einem Gericht in Schiras überprüft wurde, war der Angeklagte ein 15-jähriger Junge, der wegen Mord an seinem Freund angeklagt wurde. Man begann mit der Überprüfung seiner Akte. Das Gericht von Schiras verkündete umgehend ein Qisas Urteil (Todesstrafe), ohne die Akte an das Institut für Rechtsmedizin weitergeleitet zu haben. Nachdem die Rechtsanwälte des Angeklagten heftig protestierten, wurde die Akte an das Oberste Gericht weitergeleitet. Dieses Gericht schickte sie mit dem Argument zurück, dass das dortige Gericht die Rechtsmediziner befragen sollte, um die Mündigkeit und mentale Gesundheit des Angeklagten festzustellen.

Das Gericht in Schiras befragte das Institut für Rechtsmedizin zur mentalen Gesundheit des Angeklagten. In dieser Phase erkannten die Rechtsmediziner ihn während des Mordes als unmündig. Die Eltern des Ermordeten erhoben aber Einspruch gegen diese Einschätzung der Rechtsmediziner, was ihnen gesetzlich erlaubt war. Deshalb wurde die Akte an ein dreiköpfiges Komitee der Rechtsmedizin weitergeleitet. Diesmal – der Angeklagte war inzwischen 18 Jahre alt geworden – wurde er zur Überprüfung zur Rechtsmedizin geschickt. Erstaunlicherweise stellte das Komitee nun fest, dass der junge Mann zum Tatzeitpunkt mündig und mental gesund gewesen sein soll.

Trotz allem, ist es möglich, dass die Richter, die die Akten in der Hand haben, die zur Hinrichtung der Jugendlichen führen könnten, wegen ihrer beruflichen Verantwortung, durch den Zugang zu juristischen Argumenten und psychologischen Erkenntnissen so weit wie möglich auf solche Todesurteile verzichten können. Noch erstaunlicher ist aber die Tatsache, dass Mediziner, die ungeachtet ihrer medizinischen Vereidigung, die Verfahren insofern stützen, dass die Gerichtsverfahren in Todesurteilen junger Menschen enden können. Meiner Meinung nach handeln diese Ärzte im Widerspruch zu ihrem medizinischen Eid.

Nasrin Sotudeh
Rechtsanwältin
Teheran-Iran

Zur Person

Die iranische Menschenrechtsanwältin und Journalistin Nasrin Sotoudeh (geboren 1963), Mutter zweier Kinder, saß über drei Jahre in Haft, weil sie sich in ihrer Heimat für Menschen-, Frauen- und Kinderrechte eingesetzt hatte. Der Richter begründete fünf der ursprünglichen 11 Jahre Haft, damit, dass sie in einer im Iran nicht ausgestrahlten Videobotschaft ohne Kopftuch aufgetreten war.

Die Rechtsanwältin ist nach Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi die bekannteste iranische Menschenrechtlerin und die mit Abstand bedeutendste Vertreterin der iranischen Zivilgesellschaft, die sich im Iran aufhält. Sie ist Mitgründerin der Eine-Million-Unterschriften-Kampagne für Frauenrechte im Iran und setzte sich vor allem für Frauen und Mädchen ein und war unter anderem gegen das sogenannte „Familienschutzgesetz“ aktiv. Dies sollte muslimischen Männern ermöglichen, ohne Einwilligung ihrer Ehefrau weitere Frauen zu heiraten. Vor allem aber kämpfte sie gegen die willkürliche Verletzung der noch bestehenden Rechte innerhalb der Islamischen Republik.

Nasrin Sotoudeh wurde 2008 der Internationale Menschenrechtspreis von HRI (Human Rights International) zugesprochen. Sie durfte den Iran allerdings nicht verlassen, um an der Verleihung teilzunehmen. In ihrer Vertretung reisten jedoch ihr Ehemann Reza Khandan und ihre Tochter Mehrawe nach Merano/Italien. Zudem erhielt sie 2011 den PEN/Barbara Goldsmith Freedom to Write Award und den Sacharow Preis für geistige Freiheit 2012. Seit dem 14. April 2013 gehört die renommierte Menschenrechtlerin dem Kuratorium der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte an.

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Credit Vorschaubild: Patrick Feller, FlickrCC BY 2.0

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