Gedicht vor Gericht

Daria Kosyrewa

Die russische Künstlerin Daria Kosyrewa vor der Urteilsverkündung in einem St. Petersburger Gericht am 18. April 2025. Foto: SOTAvision

„Die Ukraine wird selbst entscheiden“ – Die mutige politische Gefangene Daria Kosyrewa

Daria Kosyrewa

Daria hält die Hand ihrer Mutter während der Verlesung des Urteils durch den Richter. Foto: Sota Vision

Am 24. Februar 2024 wurde die 19-jährige Studentin und Antikriegsaktivistin Daria Kosyrewa in Sankt Petersburg festgenommen. Der Vorwurf: Sie hatte einen Ausdruck des Gedichts „Testament“ von Taras Schewtschenko auf dessen Denkmal angebracht. Die zitierten Zeilen lauteten:

„Begrabt mich, steht dann auf,
Zerreißt die Ketten,
Und mit dem feindlich bösen Blut
Besprengt die Freiheit!“

Wegen dieser friedlichen Aktion wurde sie der „wiederholten Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ beschuldigt. Im Mai 2025, nach monatelanger Untersuchungshaft und Gerichtsverhandlungen, wurde Daria zu zwei Jahren und acht Monaten Straflager verurteilt.

Daria Kosyrewa

Daria während ihrer Schlussworte. Foto von SOTAvison

Eine junge Stimme des Widerstands

Darias Engagement begann nicht erst mit diesem Fall. Bereits 2022, mit nur 17 Jahren, wurde sie strafrechtlich verfolgt, weil sie auf einer Installation zur angeblichen „Hilfe für Mariupol“ in der Petersburger Innenstadt die Worte schrieb: „Mörder, ihr habt ihn bombardiert. Judas.“ Im Januar 2024 wurde sie von der Universität Sankt Petersburg exmatrikuliert – wegen kritischer Beiträge über Zensurgesetze in sozialen Netzwerken.

Im Gerichtssaal trat Daria entschlossen auf. Sie nannte das Verfahren „absurd“ und verglich es mit der Verfolgung von Taras Schewtschenko durch das zaristische Regime. Trotz Druck und Einschüchterung weigerte sie sich, ihre Überzeugungen zu widerrufen oder Reue zu zeigen. Ihre Reden vor Gericht wurden zu politischen Manifesten – voller Emotion, Geschichte und Widerstandskraft.

Ihr letztes Wort vor Gericht

Nachfolgend veröffentlichen wir Daria Kosyrewas letztes Wort vor dem Gericht. Es ist nicht nur ein persönliches Statement – es ist eine historische Analyse, eine moralische Anklage und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Souveränität der Ukraine. Obwohl sie vom Richter mehrfach unterbrochen wurde, sprach Daria weiter, zitierte Schewtschenko und Mazepa und reflektierte über Jahrhunderte imperialer Unterdrückung.

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Daria (rezitiert ein Gedicht von Schewtschenko auf Ukrainisch):

Lach nur, grausamer Feind!

Doch nicht zu sehr, denn alles vergeht —

Nur der Ruhm vergeht nicht;

Er vergeht nicht, sondern wird erzählen,

Was in der Welt geschah.

Richter (unterbricht): Auf Russisch bitte, das Verfahren läuft auf Russisch. Können Sie auf Russisch sprechen? Wenn ich es richtig verstehe, ist das ein Gedicht?

Daria: Ja.

Richter: Dann bitte auf Russisch. Weil das Verfahren bei uns in russischer Sprache geführt wird.

Daria (fährt auf Russisch fort): Wessen Wahrheit, wessen Lüge, wessen Kinder sind wir? Unser Gedanken, unser Lied wird nicht sterben, nicht vergehen. Hier sind die Menschen, unser Ruhm. Ruhm der Ukraine!

Wenn Taras Hryhorowytsch zufällig in unsere Zeit geraten wäre — hier erwartet man wohl von mir zu sagen, dass er sehr erstaunt gewesen wäre. Nein, er hätte sich überhaupt nicht gewundert. Zu vertraut wäre ihm das Bild erschienen. Moskowien drängt wieder. Natürlich begann der Krieg nicht 2022. Und nicht einmal 2014, wenn man es eng betrachtet, obwohl 2014 ein Ausgangspunkt war. 2014 begannen es dieselben Russen, die für jeden Tropfen vergossenen Blutes verantwortlich sind. Im weiteren Sinne aber tobt dieser Krieg seit Jahrhunderten.

Ein erstaunliches Merkmal der russischen Geschichte: Ganz gleich, welches Regime an der Macht ist – es ist, als würde eine Religion diesem Regime verbieten, die Ukraine einfach in Ruhe zu lassen. Zaren und Kommunisten unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht. Egal, in welche Kleider sie sich hüllten, unter ihnen versteckte sich immer wieder derselbe Moskauer Ansturm. Man sollte meinen, nach so vielen Jahrhunderten hätten sie es begriffen. Lasst ab – einfach lasst ab!

Ja, Moskau hat oft gesiegt, viele Male. Aber einen endgültigen Sieg hat es nie errungen. Und wird ihn auch nie erringen. Das ukrainische Volk wird es nicht zulassen. Es hat genug. Aber die Besatzer verstehen das einfach nicht. Besonders klug sind sie nicht, sonst hätten sie es längst verstanden. Niemand hat ihnen das Recht gegeben, über die Vergangenheit oder Zukunft der Ukraine zu entscheiden. Sie begreifen nicht, dass die Ukrainer keinen großen Bruder brauchen – schon gar nicht einen „dreieinigen russischen Volkskörper“. Die Ukraine ist ein freies Land, eine freie Nation.

Und sie allein wird über ihr Schicksal entscheiden. Wenn jemand die Narrative des Besatzers verbreitet, wird das ukrainische Volk ihn hassen. Und man soll hier nicht von ukrainischen Nationalisten sprechen. Ihr habt es selbst dazu gebracht. Wenn jemand in die Ukraine eindringt – dann wird er bekämpft. Und vielleicht sogar schmerzhaft. Ich wünsche den Russen von Herzen, sich diese grundlegenden Wahrheiten endlich zu merken. Die Ukraine ist, ich wiederhole es, eine freie Nation. Sie allein wird entscheiden, welchen Weg sie geht. Sie allein wird entscheiden, wen sie Freund oder Feind nennt. Sie allein wird bestimmen, wie sie mit ihrer Geschichte umgeht. Und erst recht – in welcher Sprache sie spricht.

Ich sage das alles, als wäre es selbstverständlich. Aber selbstverständlich ist es leider nicht. Klar ist nur: Putin begreift nicht, dass die Ukraine eine souveräne Nation ist. In seinem Kopf hat ohnehin vieles keinen Platz. Menschenrechte, demokratische Prinzipien – Dinge wie diese. Aber selbst viele, die eigentlich gegen Putins Regime sind, verstehen es nicht immer. Verstehen nicht, dass die Ukraine, die mit Blut für ihre Souveränität bezahlt hat, allein entscheiden wird, wie sie leben will. Ich will hoffen, dass sich diese Haltung mit der Zeit ändern wird – mit der Rückkehr der Demokratie. Ich will glauben an eine Zukunft, in der Russland jeglichem Imperialismus entsagt – dem blutdürstigen wie dem schleichenden, der sich in den Köpfen der Menschen verbirgt.

Gott gebe es, einfach Gott gebe es. Ein paar Petschenegen und Polowzer – wie könnte es ohne sie sein. Ich beanspruche keineswegs, hier einen historischen Vortrag zu halten. Was jetzt folgt, ist eher ein emotionaler Kommentar zu historischen Ereignissen. Ein ausführlicher Bericht wäre im Format dieser Anhörung unpassend. Die Anwesenden würden sich zu Tode langweilen.

Bohdan Chmelnyzkyj war natürlich ein großer Hetman. Aber auch große Männer können große Fehler machen. Er konnte wohl nicht ahnen, welche tragischen Folgen die Rada von Perejaslaw haben würde. Er hatte lediglich auf ein militärisches Bündnis gegen Polen gehofft. Nicht im Traum hätte er sich vorgestellt, dass die Ukraine in diesem Bündnis nach und nach all ihre Freiheit verlieren würde.

Richter (unterbricht): Die Ermittler bitten Sie, sich näher am Thema des Verfahrens zu halten. Ich habe das Recht, Sie zu unterbrechen, wenn Sie sich zu weit vom Fall entfernen. Ich habe das Recht, Sie aufzufordern, beim Thema unseres Strafverfahrens zu bleiben – und nicht bei Ereignissen, die hunderte Jahre zurückliegen. Verstanden?

Daria fährt fort: Ja, ich wollte gerade ein Gedicht von Taras Schewtschenko zitieren. Leider nicht in Versform – ich erinnere mich nicht mehr an die Übersetzung auswendig. Aber in diesem Verfahren wurde ja auch die Frage aufgeworfen, ob Taras ein Nationalist war.

Deshalb, meiner Meinung nach, ist es sehr passend.

„Herrschte… Oh, Bohdan, unverständiger Sohn. Schau nun auf deine Mutter, deine Ukraine. Was sie in den Schlaf sang – von ihrem schweren Schicksal. Was sie in den Schlaf weinte – suchte das Leid. Oh Bohdan, Bohdantschyk. Hätte sie es gewusst – sie hätte dich in der Wiege erstickt, unter dem Herzen zum Schlafen gebracht.“

Daria (über ihre spontane Übersetzung): Mein Gott, wie furchtbar. Naja, es ist eben so gefordert.

Daria (fährt fort): Wenn Taras kein Nationalist gewesen wäre – wieso hätte er dann Bohdan so hassen sollen? In seinem Werk finden sich noch deutlich härtere Ausdrücke. Aber gerade dieses Gedicht, irgendwo in einer dunklen Ecke, gefällt mir sehr. Den Fehler Bohdans versuchte schon der nächste Hetman zu korrigieren – Iwan Wyhowskyj. In der Ukraine ist sein glänzender Sieg bei Konotop sehr bekannt, wo er das Moskauer Heer vernichtend schlug. Leider erlitt er später eine Niederlage. Ebenso wie Petro Doroschenko danach. Einen großen Einfluss hatte auch das Wirken von Iwan Masepa. In Russland hört man aus jedem Bügeleisen, was für ein Verräter er gewesen sei. Aus Sicht der Petrinischen Imperiumsbefürworter mag das stimmen. Doch für die Ukrainer war er ein echter Patriot, der im Bündnis mit den Schweden für die Unabhängigkeit seines Landes kämpfte.

„Für den Glauben sollt ihr sterben, für die Freiheit kämpfen! Ewig sei der Ruhm – denn dank dem Säbel haben wir Rechte.“ – So schrieb Masepa selbst.

Richter (unterbricht): Zum zweiten Mal: Wir machen Sie darauf aufmerksam – das Verfahren läuft auf Russisch. Wenn Sie etwas sagen möchten, bitte auf Russisch.

Daria (fährt fort): „…Dank dem Säbel haben wir Rechte“ – so schrieb Masepa selbst. In der Geschichte des Krieges mit dem Hetman Masepa fehlte natürlich nicht das Lieblingshobby aller Kolonisatoren – das Massaker. Bei der Einnahme von Baturyn, der Hetman-Hauptstadt, wurde die Stadt geplündert und niedergebrannt. Alle, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, wurden niedergemetzelt.

Man verschonte dabei weder Frauen noch Kinder. Diese Ereignisse gingen als „Tragödie von Baturyn“ in die Geschichte ein. Taras Schewtschenko beschrieb sie übrigens sehr eindringlich in seinem Gedicht Der große Keller. Masepas Bestrebungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Leider. Umso tragischer, wenn man bedenkt, dass Peter danach die Autonomie der Hetmanate vollständig aufhob. Obwohl – zugegeben – nicht vollständig.

Den Rest erledigte später Katharina II. Ich erwähnte bereits in meiner Verteidigungsrede, wie unpassend es wäre, heute von Ketten im Zusammenhang mit der Ukraine zu sprechen. Die Ukrainer lassen sich nie wieder in Ketten legen. Und auch jetzt haben sie es nicht zugelassen. Zu Zeiten von Taras jedoch waren diese Ketten brutale Realität. Daher findet man in seinen Werken keine kämpferischen Aufrufe, die Moskauer zu schlagen. Nicht die Zeit, nicht die Hoffnung. Sein patriotisches Schaffen ist ein Wehklagen. Eine Klage über das bittere Los der Ukraine. Über den vergessenen Ruhm der Kosaken. Über die Fehler und Niederlagen, die die Ukraine ihre Freiheit gekostet haben. Er glaubte natürlich, dass der Ruhm eines Tages zurückkehrt. Dass die Geister der großen Hetmane aus den Jahrhunderten auferstehen. Dass die Ukraine ihre feindlichen Ketten abwerfen wird. Wann genau das geschehen sollte, konnte er nicht wissen. Dass in kaum fünfzig Jahren auf der Landkarte eine Ukrainische Volksrepublik entstehen würde – das konnte er nicht wissen. Dass eben jene ukrainischen Bauern, einst rechtlos und stumm, endlich die Nationalflagge erheben, zu den Waffen greifen und gegen Bolschewiken und Weiße Armee ziehen würden, unter dem Kommando von Ataman Petljura.

Leider siegten die Bolschewiken. Und zwar nicht nur zum Leid der Ukrainer. Auch vieler anderer Völker. Und die Ukraine geriet in die Hände eines grausamen Henkers – für weitere 70 Jahre.

Richter (unterbricht): Wir müssen Sie erneut unterbrechen. Bitte zurück zum Thema. Es geht hier um einen konkreten Tatbestand, nicht um Geschichtsunterricht.

Daria (fährt fort): Jetzt zur Gegenwart. Heute sind die Ketten längst gefallen. Niemand wird sie der Ukraine je wieder anlegen. Das Volk hat Jahrhunderte lang Blut für seine Freiheit vergossen. Es wird sie nie wieder hergeben. Die Ukrainer erinnern sich. Erinnern sich gut daran, wie einst ihre Vorfahren kämpften. Und ich will nur eine Frage stellen:

Erinnert sich auch der östliche Nachbar? Kommunisten gibt es zum Glück nicht mehr. Zaren erst recht nicht. Aber die imperialen Traditionen – die scheinen geblieben zu sein. Wie gesagt: Putin begreift offenbar nicht, was ukrainische Souveränität bedeutet. Ihm wäre es wohl am liebsten: eine gefügige, stumme Kleinrussland-Provinz. Eine, die keinen eigenen Willen hat. Die jedem seiner Worte gehorcht. Die in fremder Sprache spricht – und ihre eigene langsam vergisst. Irgendwo wurde ein Fehler gemacht. Putin konnte einfach nicht glauben, dass es mit Kleinrussland vorbei ist. Dass die Ukrainer ihre Heimat nicht wieder dazu machen lassen.

Putin versuchte es, mit aller Kraft. 2014 annektierte er die Krim.

Er entfachte den Krieg im Donbass aus denselben Motiven.

2022 dachte er offenbar, es sei an der Zeit, das Ganze zu Ende zu bringen. Ein guter Plan. Blitzkrieg. Kiew in drei Tagen.

Kein Wunder, dass ihm nicht mal drei Jahre reichten. Auch drei Jahrzehnte würden nicht reichen. Der Feind wurde schnell aus dem Raum Kiew vertrieben. Später aus der Gegend von Charkiw. Über den Dnipro aus Cherson. Die Besatzer kamen nicht nur nicht bis zur Hauptstadt – sie kontrollieren nicht einmal vollständig die „besonderen Gebiete“ im Donbass.

Ein Teil ukrainischen Territoriums, ja, ist noch besetzt. Und wird es womöglich lange bleiben. Es ist traurig, das zuzugeben – aber so ist es.

Doch Moskau konnte die Ukraine nicht bezwingen. Das heldenhafte ukrainische Volk erhob sich zum Schutz des Vaterlandes. Und verteidigte seine Heimat mit vielen, vielen Opfern. Die Nationalflagge weht über Kiew. Und wird es für immer tun. Bereits als sie von der Hauptstadt zurückgeschlagen wurden, Anfang 2022, standen die Besatzer mit leeren Händen da.

Ich träume natürlich davon, dass die Ukraine jeden Zentimeter ihres Landes zurückholt. Auch den Donbass. Auch die Krim.

Ich glaube daran, dass mein Traum eines Tages Wirklichkeit wird.

Eines Tages wird die Geschichte alles gerecht beurteilen.

Aber die Ukraine hat bereits gesiegt.

Sie hat bereits gesiegt.

Das war alles.

Daria Kosyrewa

Daria kurz vor ihrem Schlusswort. Foto: SOTAvision

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